Nach Berliner Corona-Gipfel: Kritik am Weiter so wird lauter

Impfzahlen stagnieren, Inzidenzzahlen steigen. Doch Bund und Länder schaffen keinen Neustart. Dabei liegen Aufgaben und Alternativen auf dem Tisch

Es ist nicht alles schlecht in der Corona-Politik von Bund und Ländern. Der Sommer hat vorsichtige Öffnungen gebracht, Reisen sind seit Langem wieder möglich und die Bildungseinrichtungen sind zu einer, wenn auch fragilen, Normalität zurückgekehrt. Doch, es folgt ein Aber.

Die Bund-Länder-Beratungen am Dienstag dieser Woche haben es nicht vermocht, die Rückkehr zu einem normalen gesellschaftlichen Leben auch abzusichern, geschweige denn, eine vorausschauende oder sogar visionäre Pandemiepolitik zu entwickeln.

Mit einer Mischung aus hilflos wirkenden Appellen und Drohungen versuchen Bundesregierung und Landesregierungen die relativ geringe Impfquote zu erhöhen; Deutschland befindet sich im europäischen Vergleich gerade noch unter den besten Zehn sowie im oberen Mittelfeld, könnte angesichts des rückläufigen Impftempos aber weiter abrutschen.

Derzeit sind gerade einmal 55 Prozent der Bürgerinnen und Bürger vollständig geimpft und damit bis auf weiteres immun gegen den neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 und seine ersten vier Varianten, allen voran die erstmals in Indien aufgetretene und am weitesten verbreitete Delta-Mutation.

Dieses beharrliche Festhalten an einer nur auf Immunisierung ausgerichteten Strategie offenbart nicht nur eine gewisse Hilfslosigkeit im Krisenmanagement; einem Gebiet, das gemeinhin ein hohes Maß an Flexibilität verlangt.

Dieses Vorgehen aber birgt Risiken.

Erstens nämlich ist keineswegs gesichert, dass bis zum Herbst mit seinen sicherlich wieder ansteigenden Infektionszahlen eine hinreichend hohe Durchimpfung erreicht werden sein wird.

Zweitens ist völlig unklar, ob und in welchem Maße sich künftige Mutationen des Sars-CoV-2 durch die bisher in der EU und Deutschland zugelassenen Impfstoffe eindämmen lassen.

Zwar versucht das regierungsnahe Robert-Koch-Institut zu beschwichtigen, indem es darauf verweist, dass die Covid-19-Impfstoffe neutralisierende Antikörper sowie eine T-Zell-Immunität gegen viele unterschiedliche Bereiche des Spike-Proteins induzieren und einzelne Mutationen "in der Regel" keinen sehr großen Einfluss auf die Wirksamkeit der Impfstoffe haben.

Neben der Einschränkung - "in der Regel" - konstatiert das RKI aber auch, dass für die Virusvariante Gamma "aktuell nicht genügend Daten vorliegen, um sicher zu bewerten, wie wirksam in der EU zugelassene Impfstoffe sind".

Neuer Lockdown bleibt im Gespräch

Der Bund-Länder-Gipfel hätte die Chance gehabt, neben den Impfungen weitere Strategien zur Bewältigung dieser vielschichtigen Krise zu beraten. Diese Chance aber haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht wahrgenommen.

Ungehört blieben einmal mehr Forderungen aus der Ärzteschaft, den Schutz vulnerabler Gruppen zu stärken oder auf die medikamentöse Behandlung Erkrankter zu setzen, statt mit dem Ziel von Kontaktbeschränkungen womöglich erneut eine ganze Gesellschaft wegzusperren.

Doch genau das, ein neuer Lockdown, ist nicht ausgeschlossen. Es gehe darum, die vierte Welle zu vermeiden und einen weiteren Lockdown zu verhindern, sagten die SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.

Die Entstehung und Ausbreitung weiterer Mutationen würden "zwangsläufig in den nächsten Lockdown mit unabsehbaren Folgen führen", fügten die SPD-Vorsitzenden hinzu.

"Ein möglicher Lockdown ist bis auf Weiteres aufgeschoben, nicht aber verbindlich aufgehoben", sagte der Geschäftsführer des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Markus Jerger, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.

Die Bundesregierung habe sich "über die Bundestagswahl gerettet", fügte Jerger hinzu. Dem Mittelstand aber fehle ein dringend benötigter Fahrplan für einen Neustart der Wirtschaft nach Corona.

Dieser Sicherheit verweigern die Verantwortlichen in Bund und Ländern auch anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa den Kitas und Schulen.

Der Bund-Länder-Gipfel am Dienstag dieser Woche habe es versäumt, mit bundesweit einheitlichen und verbindlichen Leitlinien für Klarheit zu sorgen, in welcher Pandemie-Situation an Kitas, Schulen und Hochschulen welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, so die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW, Maike Finnern, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, befürchtet bei Schnelltests, Maskenpflicht, Filteranlagen, Quarantäneregelungen und Inzidenzwerten erneut einen bundesweiten Flickenteppich. "Das wird aber der Akzeptanz der jeweiligen Maßnahmen enorm schaden", so Meidinger.

Welche Konsequenzen hat die Abschaffung kostenloser Tests?

Widerspruch gibt es auch angesichts der Abschaffung allgemeiner und kostenloser Schnelltests ab dem 11. Oktober. Der Sozialverband VdK etwa sprach sich für kostenlose Tests in Pflegeheimen über den Oktober hinaus aus, "um das Leben der Bewohner zu schützen":

Allein im Juni dieses Jahres gab es laut dem Robert Koch-Institut noch 40 aktive Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen verbunden mit Krankenhausaufenthalten und Todesfällen. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass es weiterhin kostenfreie Tests für alle Besucher und Mitarbeiter dieser Einrichtungen gibt. Geimpfte oder genesene Besucher sowie interne und externe Mitarbeiter müssen kostenlos vor Ort getestet werden können.

VdK-Präsidentin Verena Bentele.

Der VdK befürchtet nach dem Beschluss für ein Ende der kostenlosen Corona-Tests auch eine zunehmende Isolation von Kindern, Jugendlichen und Geringverdienern. "Wir erwarten mehr Klarheit bei den Regelungen für Kinder und Jugendliche. Für Schüler darf es keine Impfpflicht durch die Hintertür geben", sagte Bentele dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Wie zuvor schon Vertreter der Ärzteschaft plädierte am Dienstag die Diakonie in Niedersachsen für einen "sinnvollen Kriterienmix" bei der Bewertung der Pandemie. Die Einschätzung der pandemischen Lage müsse mit wissenschaftlichen Experten eng abgestimmt und entwickelt werden, um "ohne größere Einschränkungen durch Herbst und Winter zu kommen".

"Es muss in diesem Jahr gelingen, Kindertagesstätten und Schulen offenzuhalten, um weitere Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen zu vermeiden", heißt es in einer Pressemitteilung von Hans-Joachim Lenke, dem Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), der dem Bund-Länder-Gremium vorsteht, widersprach indes der These, dass die jüngsten Beschlüsse auf eine Impfpflicht hinauslaufen. Einen solchen Zwang zur Immunisierung „gibt es nicht“, so Müller im Inforadio des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Allerdings werde der Druck auf Menschen ohne Impfung bewusst erhöht.


In einer früheren Version des Textes stand, Deutschland weise im europäischen Vergleich eine relativ geringe Durchimpfung auf. Das stimmt so nicht, der Passus wurde korrigiert und präzisiert. Der Autor

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