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Popkultur in Zeiten des Terrors
Mit den Anschlägen von Paris zielte der islamische Terrorismus zum ersten Mal auch auf subkulturelle Milieus ab. Jeder, der ab und zu einmal Konzerte besucht, konnte sich mitgemeint fühlen und reagierte entsprechend verstört. Bald aber schon erklangen die ersten "Jetzt erst recht!"-Appelle und tatsächlich füllten sich die Bühnen wieder. Geht jetzt also doch einfach alles so weiter oder wird der 13. November nachhaltige Spuren in der Popkultur hinterlassen, wie es französische Medien nahelegen, die schon von einer "génération Bataclan" sprechen?
Jahresrückblicke mit den besten Platten, Filmen, Büchern und prägendsten Ereignissen der vergangenen 12 Monate gehören zu den festen Ritualen von Popkultur-Zeitschriften. Ihre Leser vertiefen sich mit Inbrunst in die vielen Tabellen, gleichen die Nennungen mit ihren eigenen Präferenzen ab und zeigen sich je nach Ergebnis befriedigt oder erbost. Auch das französische Magazin Les Inrockuptibles widmete sich in jeder Weihnachtsnummer dieser liebgewonnenen Praxis.
Dieses Mal jedoch haderte das Blatt, das selbst einen Mitarbeiter bei dem "Eagles of Death Metal"-Konzert verloren hatte, mit dieser Tradition. "Ein "Best of 2015, wirklich?", fragte der Chefredakteur im Editorial, um dann aber doch mit "Ja" zu antworten: "Trotzdem, trotz allem, weil nur die Künstler die Wahrheit der Welt zu finden wissen und uns helfen können, mit dem Chaos umzugehen."
So kam es dann zu Rubriken wie "40 Gründe, 2015 trotzdem zu lieben" - mit dem neuen deutschen Mindestlohn auf dem 9. Platz. Aber gleichwohl blieb der fatale Freitag in der Bilanz natürlich überpräsent, etwa in den Beiträgen von Filmemachern, die diffus spürten, dass sie von nun an andere Bilder von der Stadt machen müssen oder solchen von Musik-Journalisten, denen nach den Attacken erst einmal das Hören verging.
Im Unterschied zu Les Inrockuptibles hat die Film-Zeitschrift Cahiers du Cinéma gleich auf der Titelseite ihre Sicht auf das Jahr unmissverständlich dargestellt. Sie hatte dafür bereits vor den Anschlägen vom 13.11. den ehemaligen Charlie-Hebdo-Zeichner Luz verpflichtet, Urheber des "Alles ist verziehen"-Covers nach den Attacken vom 7. Januar mit dem sich zu "Je suis Charlie" bekennenden Mohammed. Luz hatte den Cahiers da schon angekündigt, sich für seine Arbeit von dem letzten "Mad Max"-Film inspirieren zu lassen, und das neuerliche Wüten des IS bekräftigte ihn darin noch.
Schon am Montag danach lieferte er eine düstere Schwarz-Weiß-Zeichnung mit einer ins post-apokalyptische Paris versetzten "Mad Max"-Heldin ab. "Mad Max: Fury Road" war für die "Cahiers du Cinéma" dann auch einer der Filme des "schwarzen Jahres", als Gegengift brauchte die Redaktion jedoch auch zarte, intime Werke wie "Sommer" von Alanté Kavaïté.
Selbstverständlich widmeten sich auch die Jahresrückblicke bundesdeutscher Magazine dem Pariser Massaker, aber format-sprengende Erschütterungen gingen von ihm nicht mehr aus. "Jetzt hat der Terror die Grenze der Popkultur überschritten", hielt der Musikexpress fest, und Intro sprach von Bildern "aus dem Konzertclub Bataclan, die uns mit voller Wucht erwischten, weil sie unmittelbar jene Lebenswelt betreffen, die wir hier täglich verhandeln".
Popkultur als Herz westlicher Kultur
Diese Lebenswelt erschien im Licht der Anschläge plötzlich als Essenz westlicher Kultur. Als "Angriff auf ein freies und selbstbestimmtes Leben", wertete die Jungle World das Bataclan-Kommando des IS. Der französische Linkspolitiker Jean-Luc Melenchton sah mit den Maschinengewehr-Salven und Sprengstoff-Gürteln die französische Jugend in dem verletzt, was für sie das Ontologischste ist, und die Inrockuptibles nahmen gar Zuflucht bei theologischer Metaphorik:
Die Party ist unser Heiligtum.
Der Philosoph Alain Finkielkraut schließlich stattete auch die anderen IS-Ziele mit höheren Weihen aus. "Der Angriff traf Paris, aber mit Paris war ganz Europa gemeint. Das Fußball-Stadion, vor allem aber das Café ist ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Zivilisation", sagte er in einem "Zeit"-Interview.
Auch die Reaktionen auf die Attacken blieben dieser Welt verhaftet. "Sie haben Waffen. Scheiß drauf. Wir haben Champagner", titelte Charlie Hebdo, während es in einem Offenen Brief an die "génération Bataclan" hieß:
Wir sind utopische Hedonisten. Und wir bleiben es.
Und François Hollande kündigte in seiner Trauerrede an, als Antwort auf die Anschläge die Zahl der Konzerte noch zu steigern. Am weitesten aber trieb es die Jungle World. Sie nahm die ironische Ikonografie der "Eagles of Death Metal" für bare Münze und rief im Namen des letzten Album-Covers der Band, das eine fast barbusige Rocker-Braut zeigte, zum Gegenschlag auf: "Aux armes, libertins!" "Pervers bleiben" lautete für die Wochenzeitung das Gebot der Stunde.
Verteidigungspolitiker erkannten ebenfalls die Zeichen der Zeit und entdeckten die Popkultur als operationalisierbare Größe für ihr Geschäft. "Nicht erst seit den Anschlägen von Paris bedingt der Schutz des europäischen Lebensstils auch eine handlungsfähige Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die ihren Namen verdient", konstatierte etwa Michael Gahler.
Wenn schon mit der Idee "Europa" oder auf nationaler Ebene mit dem Patriotismus in Sachen Wehrertüchtigung nicht mehr viel zu reißen ist, dann könnte man es vielleicht ja mal mit Party, Pop und Fußball probieren, mag sich der sicherheitspolitische Sprecher der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament gedacht haben. Mit diesem Vollprogramm wäre man dann wirklich bald beim "Clash of Civilisations".