Nach dem Charlie-Hebdo-Attentat: Ein hauptverdächtiger Dschihadist und viele Fragen
Die Polizei fahndet nach einem Brüderpaar, einer davon ist den Behörden seit Jahren als gewaltbereiter Islamist bekannt
Nach dem, was man über moderne Geheimdienst- und Polizeifahndungstechniken erzählt, müssten die beiden Hauptverdächtigen des gestrigen Anschlags (Terroranschlag in Paris mit "Allahu Akbar"-Rufen) innerhalb kürzester Zeit dingfest gemacht werden. Ein Tankwart soll die beiden auf der Nationalstraße RN2 im Departement Aisne erkannt haben: "zwei Männer mit einer Kalaschnikow".
Die Tankstelle ist von emsigen Polizeieinheiten bevölkert, der Staatsanwalt, sein Vertreter und ein Polizei-Colonel sind vor Ort, ein Hubschrauber sucht die Gegend ab; ein verdächtiger, abgestellter grauer Skoda würde genau untersucht, berichtet die Lokalzeitung L'Union L'Ardenais.
Im Bericht der überregionalen Zeitung Le Parisien haben die beiden Verdächtigen die Tankstelle überfallen; es sollen Schüsse gefallen sein, die Männer waren vermummt und fuhren einen weißen Renault Clio. Ungereimtheiten? (Ergänzung: Später wurde berichtet, dass die Verdächtigen an zwei Tankstellen gesehen wurden; eine davon haben sie überfallen).
Es gibt eine ganze Menge von Fragen, die sich am Tag nach dem Massaker in Paris stellen, und die Frage, wie lange 88.000 mobilisierte Polizisten - und dazu einige Geheimdienstteams, wahrscheinlich nicht nur vom französischen DGSI - brauchen, um die flüchtigen Brüder Chérif und Saïd K aufzufinden, gehört zu denen, die wohl eine klare Antwort finden werden.
Verstörende Vorkommnisse
Zu den anderen Fragen gehören - einmal kurz von den beiden Verdächtigen abgesehen - , ob und in welcher Weise verschiedene Vorkommnisse heute und gestern abend in Verbindung zum Attentat auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo gehören.
So feuerte heute vormittag ein schwer bewaffneter Mann im Pariser Vorort Montrouge unvermittelt Schüsse auf eine Polizistin und einen städtischen Angestellten ab. Die Polizistin erlag später ihren Verletzungen. Zu diesem verstörenden tödlichen Vorfall kommen Berichte von Anschlägen auf muslimische Einrichtungen, bei denen ein Zusammenhang mit dem Attentat "in der Luft liegt", aber noch nicht nachgewiesen wurde. Ersichtlich ist, wie angespannt und unübersichtlich die Situation ist.
Zu sehen ist dies auch aus den verschiedenen Meldungen zu den Verdächtigen und Festgenommenen im Fall des Attentats, das von der Zeitung Le Monde heute als französischer 11.September bezeichnet wurde. In der gestrigen Nacht waren plötzlich Namen dreier Verdächtiger bekannt geworden. Angeblich, weil die Ausweise zweier Brüder in einem stehengelassenen Fluchtauto gefunden wurden. Ein Dritter, jüngerer Mann, noch Schüler, soll sich der Polizei gestellt haben, hieß es gestern abend, heute Vormittag sprach Innenminister Bernard Cazeneuve davon, dass sich sieben Personen in Polizeigewahrsam befinden.
Wieviele waren an dem Anschlag beteiligt?
Über die sieben, die festgenommen und verhört werden, gibt es zur Stunde noch keine weiteren Angaben. Der Dritte wirft einige Fragen auf. Zunächst die, welche Rolle eine dritte Person beim gestrigen Anschlag gespielt hat. Cazeneuve sprach gestern kurz nach dem Attentat von drei Beteiligten; zuvor wurde in Berichten ein Fahrer angedeutet. Videos zum Anschlag zeigen aber nur zwei vermummte und bewaffnete Personen, einer der beiden sitzt auch am Steuer. Was hat der Dritte gemacht?
Der Dritte, der sich gestern Abend der Polizei im Nordwesten Frankreichs, in Charleville-Mézières, stellte, weil er seinen Namen als Verdächtiger in sozialen Netzwerken gelesen habe, beteuert seine Unschuld. Angeblich wird sein Alibi, wonach er zum Zeitpunkt des Anschlags in der Schule war, von Mitschülern bestätigt. Längst dürften auch Aussagen von Lehrern vorliegen. Aber er hat eine enge Verbindung zu den beiden verdächtigen Brüdern: Chérif K. ist mit seiner Schwester verheiratet.
Mit Chérif K sind eine ganze Menge Fragen verbunden, davon einige, die Frankreich noch eine ganze Zeit beschäftigen werden, egal, wie die Flucht ausgeht. Sicherheitsbehörden, Polizei, Geheimdienste und Justiz haben Vorwürfe der Laxheit zu erwarten. Chérif hatte Beziehungen zu einem gewaltbereiten islamistischen Dschihadistenmilieu. Das war der Polizei, der Justiz und auch den Geheimdiensten seit langem bekannt.
Turnschuh-Dschihadisten, die ernst machen
Aufgewachsen ist der algerischstämmige nun Mitte-30-Jährige im 19. Arrondissement in Paris. Eine, allerdings nicht gerade professionelle, Grundausbildung an der Kalaschnikow erwarb sich der Mann in seinem Freundeskreis Mitte des letzten Jahrzehnts, als sich die jugendliche Gruppe für den Dschihad im Irak begeisterte. Dies geht aus Berichten über die damaligen Gerichtsverhandlungen hervor, die heute in Le Monde und in der Libération veröffentlicht werden.
Grob zusammengefasst hatte sich die Gruppe Jugendlicher genannt "Buttes Chaumont", "spirituell" geleitet von einem Mitte-20-Jährigen, der einen algerischen Islamisten zum Stiefvater und Ideengeber hatte, zum Ziel gesetzt, Kämpfer für al-Qaida im Irak anzuwerben und dorthin zu schicken. Die Geheimdienste kamen über Vermisste - einige der zum Dschihad Missionierten kamen nicht mehr aus dem Irak zurück - auf die Spur der Jugendlichen, die mit zum Teil bekannten Islamisten in enger Verbindung standen.
Daran knüpfen sich auch Verbindungen zu einer Pariser Moschee namens Adda'Wa in der Rue Tanger, die schon seit Jahren mit Verdächtigungen konfrontiert ist, gewaltbereiten Islamisten einen Treffpunkt zu verschaffen. Mit dem Anschlag von gestern wird sie erneut in die Aufmerksamkeit rücken.
Chérif K wurde 2008 zu drei Jahren Haftstrafe verurteilt, 18 Monate davon auf Bewährung. Danach lebte er im Haus von Djamel Begal, der 2005 zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt worden war, weil er einen Anschlag auf die US-Botschaft in Frankreich plante. Im Mai 2010 taucht Chérif K. erneut in einer Gerichtsakte auf, weil er mit Begal in Verbindung steht, dem die Mitgliedschaft einer Gruppe vorgeworfen wird, "die terroristische Akte vorbereitet". Im November 2013 wirft die Justiz Chérif K. vor, dass er bei der Flucht des Attentäters Belkalcem mitgeholfen habe. Doch kommt es mangels Beweise zu keiner Verurteilung. Bei Wohnungsdurchsuchungen hatte die Polizei islamistisches Propagandamaterial und Videos von al-Qaida gefunden.
Warum sein Bruder Saïd seinen Ausweis in einem der Fluchtwagen liegengelassen hat, was die Polizei auf die Spur der beiden führte und dazu, dass die Namen der Brüder gestern Nacht übers Internet verbreitet wurden, ist ein weiteres Rätsel angesichts dessen, dass die Vorgehensweise der beiden Attentäter als professionell geschildert wurde - und die Gruppe der Irak-Dschihadisten im XIX. Arrondissement dafür bekannt war, dass sie gefälschte Identitätspapiere besorgte.