Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel
Die Genfer WSIS-Deklaration enthält zwar nur vage Grundsätze, aber dennoch fand eine Bewegung in wesentlichen Dingen statt und es wurde zusammen mit einem neuen globalen Problembewusstsein auch ein neuartiges globales Forum geschaffen
Die erste Phase des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) ist vorbei. Die 14.352 registrierten Teilnehmer sind nach Hause gefahren. Die angenommenen Dokumente sind ins Internet gestellt. Und die Beobachter fragen sich, was hat die Bergbesteigung denn nun wirklich gebracht? Sucht man nach konkreten Resultaten, wird man kaum fündig. Außer Spesen also nichts gewesen? Oder war da noch was?
Schaut man aus der Froschperspektive auf die WSIS-Konferenz, dann ist zweifelsohne die landläufig zu vernehmende Kritik an den verabschiedeten Regierungs-Dokumenten berechtigt. Sie sind vage und unverbindlich. Die Cyberwelt sieht nach dem Gipfel nicht viel anders aus als zuvor. Und der digitale Graben ist nicht flacher geworden.
Schaut man aber aus der Vogelperspektive auf den mühsamen Aufstieg zum Genfer Gipfel, dann entdeckt man, dass sich einige wesentliche Dinge zwischen Minneapolis 1998, als die Veranstaltung beschlossen wurde, und Genf 2003 bewegt haben.
Neues globales Problembewusstsein
Geändert hat sich vor allem das öffentliche Bewusstsein zum Thema Informationsgesellschaft. 1998, im Sog des Dot-Com-Booms, war das Thema primär auf die Faszination der technologischen Revolution, auf die kommerziell verwertbaren Aspekte und die digitale Spaltung fixiert. Ein Thema für Experten, Techniker, Risikokapitalinvestmentbanker und niedere Beamte in Wirtschafts- und Entwicklungshilfeministerien.
Der Genfer Gipfel hat das Thema in den großen weltpolitischen Kontext des 21. Jahrhunderts gestellt. In Genf ging es nicht um die "Informationsrevolution", es ging um die Gesellschaft, die sich darauf zu konstituieren beginnt. Zu den politischen und wirtschaftlichen Interessen, die sich 1998 abzeichneten, kamen gesellschaftliche und kulturelle Werte. Das machte die Verhandlungen so schwierig, weil es eben leichter ist, einen Interessenausgleich zu erreichen als sich über Wertvorstellungen zu verständigen. Das rückte aber das Thema auch vom Rand der globalen Politik mehr ins Zentrum.
Die WSIS-Deklaration sagt in ihrem ersten Paragraphen, welche Informationsgesellschaft man denn aufbauen wolle.
We, the representatives of the peoples of the world, declare our common desire and commitment, to build a people-centred, inclusive and development-oriented Information Society, where everyone can create, access, utilize and share information and knowledge, enabling individuals, communities and peoples to achieve their full potential in promoting their sustainable development and improving their quality of life, premised on the purposes and principles of the Charter of the United Nations and respecting fully and upholding the Universal Declaration of Human Rights.
Den Menschen in den Mittelpunkt und das Schaffen, den Zugang und den Austausch von Informationen und Wissen ins Zentrum zu rücken, sind sehr noble, aber leider auch sehr allgemeine Zielsetzungen und Formulierungen. Sie haben es aber dennoch in sich. Der hohe Abstraktionsgrad bietet ein nicht zu unterschätzendes Referenzpotential. Man denke nur an die langfristigen Wirkungen von ähnlichen Dokumenten wie der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 oder der KSZE-Schlussakte von 1975. Erst Jahre später merkte man, was solche allgemeinen Formeln tatsächlich bewirken.
Die Zivilgesellschaft hatte sich vom ersten Tag der PrepCom1 (Juni 2002) gegen eine technokratische oder bürokratische Informationsgesellschaft gewandt und eine "Informationsgesellschaft mit menschlichen Antlitz" eingefordert. Der stete Tropfen aus den unendlichen Quellen der globalen Zivilgesellschaft höhlte offensichtlich den Stein, der nun ein Meilenstein ist, an dem sich zukünftige Entwicklungen messen lassen müssen.
Neues globales Verhandlungsforum
Ein zweites, nicht sofort sichtbares Resultat, ist die Tatsache, dass WSIS einen Prozess in Gang gesetzt hat, der die Grundfragen der Informationsgesellschaft zum Thema globaler Verhandlungen für das nächste Jahrzehnt gemacht hat. Bei allen fünf WSIS-Themen geht es um Grundsätzliches. Beim "Digitalen Solidaritätsfonds" geht es ums Geld, bei "Internet Governance" um Macht, beim "geistigem Eigentum" um Wissen, bei "Cybersicherheit" um Kontrolle und bei Informationsfreiheit und Datenschutz um Menschenrechte.
Die Organisation und Verteilung von Geld, Macht, Wissen, Kontrolle und Menschenrechte im Cyberspace aber ist eine gigantische langfristige Herausforderung. Genf 2003 ist nur eine Zwischenstation. Es folgt Tunis 2005. Und der Aktionsplan zielt auf das Jahr 2015, also Tunis 10+.
Zwar enthält die Genfer WSIS-Deklaration zu den fünf Themen nur vage Grundsätze. Das Interessante daran aber ist, dass diese Themen, die natürlich alle miteinander verquickt sind, bislang global entweder gar nicht oder völlig isoliert voneinander behandelt wurden. Mit WSIS haben diese Themen nun ihre globale Verhandlungsheimstatt gefunden.
Der Europarat, Depositar der "Cybercrime Convention", wird sich die Prinzipien der WSIS-Deklaration anschauen müssen, wenn er das Konzept der Cybersicherheit weiter entwickeln will. WTO und WIPO werden nicht umhin kommen, sich mit der von der WSIS-Deklaration eingeforderten Balance zwischen Schutz des geistigen Eigentums und freien Zugang zu Wissen zu befassen. Die Weltbank wird sich mit der Idee des "Digitalen Solidaritätsfonds" auseinandersetzen müssen. Und bei "Internet Governance" wird ICANN prüfen müssen, inwieweit ihr gerade beendeter Reformprozess dem von WSIS geforderten "multistakeholder approach" entspricht.
Während vor dem Genfer Gipfel Europarat, WTO, WIPO, Weltbank und ICANN so gut wie nichts miteinander zu tun hatten, werden sie jetzt in ein entstehendes globales institutionelles Netzwerk hineingezogen, in dem nicht nur Regierungen, sondern auch die private Industrie und die Zivilgesellschaft eine von der WSIS-Deklaration bestätigte "bedeutende Rolle" spielen.
Wie weiter mit "Internet Governance"?
Die Globalisierung der WSIS-Themen wird sich vor allem bei der weiteren Diskussion über Verwaltung der Kernressourcen des Internet zeigen. Die Kontorverse "ITU vs. ICANN" und der dahinter liegende Konflikt über die Zukunft des Internet zwischen der chinesischen und der amerikanischen Regierung einerseits, sowie zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft andererseits hatte WSIS zeitweise an den Rand des Scheiterns gebracht,. Der schließlich erreichte Kompromiss ist die Auslösung eines neuen Prozesses. Nun soll UN-Generalsekretär Kofi Annan mittels einer Arbeitsgruppe bis 2005 einen funktionsfähigen und akzeptablen Vorschlag aus dem Hut zaubern.
Das Internet wird damit zu einem eigenständigen globalen Verhandlungsgegenstand. WSIS holt das Thema praktisch aus der Ecke der technischen Expertengremien mit unklaren politischen Zuständigkeiten und transportiert es auf die große politischen Bühne der globalen Politik. Was dass im Einzelnen bedeutet, ist momentan schwer abzuschätzen. Möglicherweise ist Paragraph 50 der WSIS-Deklaration, der Zusammensetzung und Mandat der neuen Gruppe definiert, das weitreichendste Ergebnis von WSIS I.
Die Gruppe soll, so der Text von Paragraph 50, aus "Vertretern der Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft aus entwickelten und Entwicklungsländer und unter Einschluss bestehender zwischenstaatlicher und anderer relevanter Institutionen und Foren" gebildet werden. Den Regierungen wird dabei primär ein Mandat für die mit dem Internet zusammenhängenden Aspekte öffentlicher Politik zugewiesen. ("rights and responsibilities for international Internet-related public-policy issues"). Der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft wird eine "wichtige Rolle" bescheinigt. Zwischenstaatliche Organisationen, wie die ITU, sollen eine "fördernde Rolle" spielen.
Bemerkenswert darin ist nicht nur, dass erstmals in einem offiziellen UN-Dokument der Zivilgesellschaft eine "bedeutende Rolle", ähnlich wie der privaten Wirtschaft, zugewiesen wurde, sondern vor allem der konzeptionelle Ansatz, der auf einem neuen "trilateralen Politikmodell" basiert, bei dem Regierungen, private Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten, aber praktisch weitgehend gleichberechtigt, Hand in Hand arbeiten sollen. Das ist neu. Wie das funktionieren soll und kann, ist noch unklar. Aber es wird spannend werden zu beobachten, wo diese Reise hingeht.
Die neue "Kofi Annan Gruppe" soll zunächst definieren, was man denn überhaupt unter "Internet Governance" versteht. Dann soll sie herausfinden, welche politischen Aspekte davon tatsächlich einer staatlichen Regulierung bedürfen. Und schließlich soll sie der zweiten Gipfelphase im November 2005 in Tunis einen Mechanismus vorschlagen, wie die unterschiedlichen Themen durch unterschiedliche Akteure global und effektiv gemanagt werden können.
Dieser WSIS-Beschluss enthält möglicherweise mehr Dynamik, als man sich heute noch vorstellen kann. Schon hat die Diskussion begonnen über das "Wer", "Wie", "Wann" und "Wo" der Gruppe. Nitni Desai, Kofi Annans WSIS-Botschafter, will erst einmal zuhören, was denn die einzelnen "Stakeholder" zu sagen haben. Das erste Vorbereitungstreffen für die zweite Gipfelphase findet im Juni 2004 statt. Bis dahin will er seine Gedanken sortiert haben.
Einige Regierungen haben bereits vorgeschlagen, die neue Gruppe schon Ende März 2004 in New York zu gründen, wenn sich die UN ICT Task Force, die auch unter der Schirmherrschaft von Kofi Annan steht, trifft. Der zivilgesellschaftliche "Internet ICT Governance Caucus" hat noch in Genf einen Vorschlag zur Zusammensetzung der Gruppe in die Debatte gebracht. Man solle den Text von Paragraph 50 wörtlich nehmen und eine 18köpfige Gruppe bilden mit je sechs Vertretern von Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, jeweils drei aus dem Norden und drei aus dem Süden. Der private Sektor wird sich bei seiner routinemäßigen ICANN-Tagung Anfang März 2004 in Rom positionieren.
Neue Rolle für Zivilgesellschaft
Ein drittes langfristig wirkendes Resultat ist die neue Rolle der Zivilgesellschaft im globalen Verhandlungsprozedere. 1998 in Minneapolis spielte die Zivilgesellschaft überhaupt keine Rolle. Dann meldete sich im Dezember 1999 in Seattle die Zivilgesellschaft auf der Strasse zu Wort. Die Kritiker der WTO waren von den verhandelnden Ministern durch einen schwer bewaffneten Polizeikordon getrennt. Die Staats- und Regierungschefs mussten sich durch die Hintereingänge den Weg zum Plenarsaal und zum Konferenzdinner erschleichen.
US-Präsident Clinton, der die "Dinner Speech" in Seattle hielt, machte damals einen süß-sauren Scherz. Das Winken mit der Serviette von WTO-Generalsekretär Moorer bei seinem verspäteten Eintreffen im Ballsaal des Konferenzhotels, so Clinton, hätte ihn an das Hissen der weißen Flagge erinnert. Manche der vorwiegend jungen Leute draußen, so Clinton weiter, hätten aber ein durchaus legitimes Anliegen, dem man drinnen zuhören sollte. "Wir sollten sie in den Verhandlungsraum einladen", sagte der US-Präsident damals.
WSIS-Genf war nicht WTO-Seattle. Die Zivilgesellschaft hat hier nicht Steine geworfen, sondern Papiere produziert. Noch bei PrepCom1 gab es tumultartige Szenen vor geschlossenen Konferenztüren. Zwar öffneten sich später die Türen ein wenig, aber das "Rein oder Raus" zog sich durch den gesamten Vorbereitungsprozess. Beim Gipfel waren aber immerhin bei den drei offiziellen Round Tables neben Staatspräsidenten und Ministern auch jeweils vier Vertreter der Zivilgesellschaft als Redner eingeladen. Im Plenum konnten zehn zivilgesellschaftliche Repräsentanten ihre Meinung sagen. Und nachdem die Regierungen ihre Dokumente am Freitag Nachmittag per Akklamation verabschiedet hatten, trat Bill McIver ins Rampenlicht und ans Rednerpult und präsentierte im Namen des "Civil Society Plenary" die zivilgesellschaftliche WSIS-Deklaration. Sie sei keine Anti-Deklaration, sagte McIver, sondern eine auf das Morgen ausgerichtete Vision, die das sage, was Regierungen, die zum Konsensus auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verpflichtet seien, nicht sagen könnten.
Die Tatsache, dass sich im WSIS-Prozess die Zivilgesellschaft in zahlreichen "Familien", "Caucusen" und "Arbeitsgruppen" organisiert und sich handlungsfähige repräsentative Gremien wie die "CS Plenary" (CS-P), die "CS Content and Themes Group" (CS-C&T) und das "CS Bureau" (CS-B) geschaffen hat, gaben ihren Aktionen ein bisher kaum vorhandene Legitimität.
Der Schritt von "Turmoil" zu "Trust" wurde zwar noch nicht mit einem signifikanten Schritt von "Input" zu "Impact" belohnt, aber sieht man sich die Regierungsdokumente genauer an, dann haben schon einige Buchstaben den Weg von den zivilgesellschaftlichen Einlassungen in die regierungsoffiziellen Auslassungen gefunden. Die übliche Frustration der zivilgesellschaftlichen Gruppen hielt sich denn am Abend des 12. Dezember 2003 daher auch in Grenzen und mischte sich mit einer Hoffnung, dass sich engagierte und konstruktive Einmischung, wenn sie mit Substanz und Hartnäckigkeit vorgetragen wird, am Ende doch irgendwie lohnen kann Für die Zivilgesellschaft gilt daher in besonderer Weise die alte, einst von Sepp Herberger formulierte Fußballweisheit, dass "nach dem Spiel immer vor dem Spiel" ist.