Naive Weltverbesserer: Der fatale Irrglaube ans kollektive "Wir"

Verkehrschilder mit Pfeil und Menschenmenge, die in eine Richtung geht

Seit Jahrzehnten mahnen Experten zur Rettung der Welt. "Wir müssen handeln" lautet der Appell an die Menschheit. Doch warum scheitert dieser Ruf so kläglich?

Wenn es eine Gemeinsamkeit in zahlreichen Analysen zu globalen Problemen oder drohenden existenziellen Katastrophen gibt, ist es folgende: Studien und Argumentationen – ob sie sich aktuell auf den bedrohlichen Klimawandel, Umweltzerstörungen oder möglicherweise gravierende gesellschaftliche Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz beziehen – gipfeln oft in dem Appell "Wir müssen …".

Die Auslassungszeichen verweisen auf die in Sachbüchern, Zeitungsartikeln, Interviews oder Talkshows vorgetragenen Empfehlungen und Lösungsvorschläge der jeweiligen Autoren. Würden "wir" – womit vermutlich die Menschheit gemeint ist – diese umsetzen, könnte die Welt wieder ins Lot kommen.

Um das allgegenwärtige Phänomen zu veranschaulichen, seien folgende Beispiele angeführt:

Wir müssen uns darauf vorbereiten, unsere gegenwärtige Lebensweise zu ändern. Dieser Wandel wird entweder geplant von uns selbst durchgeführt werden, oder er wird uns von den unerbittlichen Naturgesetzen, begleitet von Chaos und Leid, aufgezwungen werden.

Jimmy Carter, 1976

In ähnlicher Weise argumentiert Maja Göpel in ihrem Buch "Unsere Welt neu denken", dass die Menschheit ihre Wirtschafts- und Lebensweisen grundlegend ändern muss, um eine nachhaltige Zukunft zu gestalten.

Der Philosoph Markus Gabriel gebraucht ein auf die Gesellschaft bezogenes "Wir" in auffallend undifferenzierter Weise:

So müssen [wir] über die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft hinweg kooperieren, auch hier universal und transversal denken." Oder: "Wir müssen verstehen, dass moralische Tatsachen etwas sind, das wir genauso erkennen können wie andere Tatsachen.

Der Bestsellerautor Yuval Noah Harari argumentiert in seinem Buch "Homo Deus", dass "wir damit anfangen [müssen], die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, damit sich diese Gefahr nicht bewahrheitet." Hierbei bezieht er sich auf die drohende, durch Technologie bedingte Spaltung der Menschheit in eine nutzlose Masse und eine gottgleiche Elite.

Diskrepanz zwischen komplexen Analysen und simplen Appellen

Es überrascht, wie komplexe Analysen zu Sachfragen, die die globale Gesellschaft betreffen – etwa die durch sie verursachten Umweltveränderungen und das damit einhergehende biologische Artensterben – mit der Simplizität eines "Wir" kontrastieren, mit dem eben jene komplexe globale Gesellschaft adressiert wird.

Analysen, die die Gesellschaft betreffen, diskreditieren sich selbst, auch wenn sie sachlich qualitativ hochwertig erscheinen, wenn sie in ihren Empfehlungen die globale, moderne Gesellschaft lediglich mit einem "Wir" adressieren und dabei die Komplexität des eigenen Beobachterstandpunkts verkennen.

Jeder Pädagoge weiß, dass bei Empfehlungen und Lösungsvorschlägen die Eigenheiten des Adressaten zu berücksichtigen sind: Es ist unsinnig, einer Person, die kein Deutsch spricht, die Feinheiten der Grammatik dieser Sprache in eben jener Sprache zu erläutern.

Die mit "Wir müssen …" beginnenden Appelle und Ratschläge evozieren ein Bild einer gesellschaftlichen Realität, das in seiner Simplizität einem in Reih und Glied stehenden soldatischen Heer gleicht, bei dem tatsächlich die Erwartung gerechtfertigt erscheint, dass Befehle bzw. Empfehlungen in die Tat umgesetzt werden können.

Die Metapher des "in Reih und Glied" stehenden Heeres bezieht sich dabei auf eine überindividuelle Moral oder Vernunft, die Autoren in ihren gut gemeinten Appellen nur individuell imaginieren können, um diesen ein Mindestmaß an Sinnhaftigkeit zu verleihen.

Dabei bedarf es lediglich eines Mindestmaßes an Selbstreflexivität, um die Simplizität von "Wir müssen …"-Appellen zu erkennen. Autoren könnten zunächst den gesellschaftlichen Ort ihrer in Sachbüchern, Interviews oder Zeitungsartikeln vorgetragenen Lösungen und Erkenntnisse reflektieren.

Dieser Ort befindet sich, auch wenn sich diese Appelle wie von außen auf die gesamte Gesellschaft beziehen, offensichtlich in der Gesellschaft selbst: In der überwiegenden Mehrheit der Fälle im gesellschaftlichen Teilsystem der Massenmedien, oder möglicherweise, in geringerem Ausmaß, im System der Wissenschaft.

Vielfalt gesellschaftlicher Rationalität

Unter diesen Voraussetzungen muss es unrealistisch und naiv erscheinen, oder könnte der Hybris von Autoren geschuldet sein, wenn diese davon ausgehen, dass eine Gesellschaft, die sich offenkundig in unterschiedliche soziale Sphären ausdifferenziert hat, und verschiedenen Funktionalitäten, Modalitäten und Rationalität folgt, in ihrer Gesamtheit dem Diktat ("Wir müssen …") von allenfalls reputierlichen Stimmen aus den Massenmedien oder der Wissenschaft folgen würde.

Politik, mit ihrem Bestreben, mittels Macht allgemein bindende Regeln auszuhandeln, folgt einer ganz anderen Funktion und Logik als etwa die am Profit orientierte Wirtschaft, die der Allokation von Waren und Dienstleistungen dient.

Dem Diktum "Wir müssen …" mag im gesellschaftlichen Teilsystem der Politik eine gewisse Sinnhaftigkeit zukommen. Allerdings ist dies auch hier begrenzt, nämlich auf mehr oder minder große Organisationen, wie Staaten oder Staatenverbände wie die EU.

Von Politik und Wirtschaft zu unterscheiden ist wiederum etwa die Wissenschaft, der es darum geht wie immer vorläufige Wahrheiten zu konstruieren, sowie etwa die Massenmedien, für die die Bekanntgabe von neuen Informationen Priorität besitzt, wie sich aktuell an den Kriegen in der Ukraine und Russland oder in Israel und Palästina demonstrieren lässt.

An der Brisanz der Information hat sich nichts geändert; dennoch wird mittlerweile in den Massenmedien vergleichsweise wenig über diese Themen berichtet, entfällt doch nunmehr, nach mehr als einem Jahr Berichterstattung, der Faktor der Neuheit.1

Bereits am Verhältnis von Politik und Wirtschaft lässt sich anhand der Steuergesetzgebung zeigen, wie unsinnig es ist, von einem einheitlichen gesellschaftlichen "Wir" zu sprechen.

Aus politischer Sicht ist es funktional und rational, das Steueraufkommen zu maximieren. Dies erhöht durch die dadurch ermöglichten Subventionen, Investitionen, subventionierte Sozialleistungen wie Zahlungen aus Renten- und Arbeitslosenversicherung, oder gegebenenfalls "Steuergeschenke" die Chancen von (Regierungs-)Parteien, ihre Macht zu erhalten und somit die in ihren Wahl- bzw. Parteiprogrammen geplanten spezifischen allgemeinverbindlichen Regelungen durchzusetzen.

Allerdings ist es aus Sicht des Wirtschaftssystems ebenso rational für dessen Funktionieren, also für die Allokation von Waren und Dienstleistungen, Kosten zu minimieren, etwa durch Lobbyarbeit, Steuervermeidung oder Steuerflucht.

Konsequenzen der Dominanz einzelner Gesellschaftssphären

Es gibt in der modernen Gesellschaft keine übergeordnete Rationalität, die ein appellatives gesamtgesellschaftliches "Wir" bei Lösungsstrategien globaler Probleme als sinnvoll erscheinen ließe. Dies zeigt sich auch empirisch.

Der Versuch, das politische "Wir" anderen gesellschaftlichen Sphären aufzuzwingen, insbesondere der Wirtschaft, indem ökonomische Belange beispielsweise durch Preisfestsetzungen für Grundnahrungsmittel oder durch Wirtschaftspläne politisch reguliert werden, hat offenkundig mittelfristig sowohl politisch als auch wirtschaftlich desaströse Folgen.

Dies wurde deutlich am Beispiel der Sowjetunion und der Länder des sogenannten "Ostblocks". Die Folge war eine jahrelange Mangelwirtschaft, die eine Dysfunktionalität des Wirtschaftssystems darstellte, sowie ein mehr oder minder überraschender Zusammenbruch der politischen Macht in den "kommunistischen" Staatengebilden.

Auch der umgekehrte Ansatz, ein wirtschaftliches "Wir" auf andere gesellschaftliche Sphären wie Politik, Wissenschaft oder Kunst auszuweiten und diese durch eine Fokussierung auf Kosteneffizienz und marktwirtschaftliches Konkurrenzdenken zu organisieren, zeigt aktuell verheerende Folgen sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht.

Die Etablierung von "schlanken Staaten" durch Deregulierungen, Privatisierungen und internationalen Steuerwettbewerb führt zu exorbitantem Vermögen weniger und gleichzeitig zur Verarmung oder Verschuldung breiter Bevölkerungsschichten und Staaten.

Wirtschaftliche Dysfunktionalitäten und Mangelwirtschaft können mittelfristig nicht nur durch fehlendes Angebot entstehen, wie es die Länder des Ostblocks über Jahrzehnte demonstriert haben, sondern auch durch eine aufgrund von Armut und Verschuldung abnehmende Nachfrage, die den Massenkonsum (und damit die Massenproduktion) schädigt.

Jedenfalls ist kaum davon auszugehen, dass die für die Wirtschaft notwendige Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen von Staaten und Privathaushalten langfristig über eine – noch stärker – steigende Verschuldung aufrechterhalten werden kann. Ein Boom in der naturgemäß marginalen Sparte der Luxuswaren kann ebenso kaum einen wirtschaftlichen Niedergang verhindern.

Die politisch verheerenden Auswirkungen einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, die durch die Ausweitung eines wirtschaftlichen "Wir" auf andere gesellschaftliche Sphären entsteht, zeigen sich aktuell in der Erosion bislang etablierter politischer Machtstrukturen. Nicht nur in Europa ist zu beobachten, dass rechtspopulistische, teilweise sogar demokratiefeindliche Parteien an Macht gewinnen.

Empirische Ineffektivität gesamtgesellschaftlicher Appelle

Empirisch zeigt bereits ein Blick auf die globale Entwicklung des Kohlendioxidanteils in der Atmosphäre, dass die seit mehr als vier Jahrzehnten stattfindenden, sich an ein gesamtgesellschaftliches "Wir" richtenden Appelle auf Weltklimakonferenzen, die eine drastische Reduktion der CO2 Konzentration fordern, faktisch keinerlei Effekt haben.

Dies liegt auch daran, dass die Weltklimakonferenzen eher als massenmediale denn als politische Veranstaltungen zu verstehen sind. Fast schon traditionell werden hier keine allgemein verbindlichen Regelungen, sondern lediglich unverbindliche Absichtserklärungen ratifiziert.

Es sollte deutlich geworden sein, dass die schlichte "Wir"-Ansprache der modernen Gesellschaft nicht nur unrealistisch ist, sondern möglicherweise sogar selbstschädigend wirkt. Die auf diese Weise offenbarte vereinfachte Vorstellung der modernen Gesellschaft mag zu blindem Aktionismus führen.

Oder es könnte eine als "Öko-Diktatur" bezeichnete Gesellschaftsform herbeigesehnt werden, in der ein gesamtgesellschaftliches "Wir" erzwungen würde – mit auf jeden Fall sowohl umwelt- als auch gesellschaftsschädigenden Konsequenzen.

Massenmediale Funktion eines "Wir" und ihre Grenzen

Die funktionale Bedeutung einer Bezugnahme auf das gesellschaftliche "Wir" liegt bestenfalls darin, in den Massenmedien Erfolg zu haben. Auf diese Weise kann in Sachbüchern, Zeitungsartikeln oder Talkshows tatsächlich zweckmäßig und sinnvoll ein möglichst großer Käufer-, Leser- oder Zuschauerkreis angesprochen und erschlossen werden, um so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, etwa einen Bestseller zu produzieren.

Heißt dies nun, dass "wir" den bedrohlichen Entwicklungen, die die moderne Gesellschaft selbst verursacht, gar nichts entgegensetzen können? – Nein. Dieser Beitrag ist ein Plädoyer dafür, die Form, die Möglichkeiten, Strukturen und Funktionalitäten der modernen Gesellschaft wissenschaftlich genauer zu verstehen als die simplifizierende, eher Unverständnis als Verständnis offenbarende "Wir"-Ansprache es vermag. Nur so besteht eine Chance, Veränderungen in der modernen Gesellschaft effektiv zu ermöglichen.

Pädagogik statt Politik

Dieser Ansatz ist in seinen Lösungsansätzen eher an Pädagogik als an Politik ausgerichtet. Es besteht eine grundsätzliche Notwendigkeit, Adressaten für Veränderungen möglichst genau zu verstehen und zu durchschauen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass zugemutete Veränderungen realistisch erwartbar werden.

Die Erfolgswahrscheinlichkeit, einem sechsjährigen Schulanfänger zuzumuten: "Du musst … – morgen die Prüfung in Mathematik zur Integralrechnung bestehen", erscheint aktuell höher als eine tatsächliche gesellschaftliche Umsetzung von "Wir müssen …"-Empfehlungen von Sachbuchautoren aus den Massenmedien heraus.

In diesem Sinne kann auch dieser Beitrag kaum einen Unterschied für die Gesellschaft ausmachen. Bestenfalls ist es möglich, einen begrenzten Leserkreis in den Massenmedien darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Erwartung, die moderne Gesellschaft aus den Massenmedien heraus geschult werden könnte – zudem in offensichtlicher Unkenntnis ihrer Eigenheiten ("Wir") –, kaum an Naivität zu übertreffen ist.

Dieser Beitrag mag immerhin einem Kreis von Lesern dabei helfen, Enttäuschungen bei den Erwartungen an einen positiven gesellschaftlichen Wandel zu vermeiden.

Dies ist besonders relevant, da mit Enttäuschungen zu rechnen ist. Denn jegliche noch so komplexe Analyse der Gesellschaft – etwa aus der Wissenschaft – kann deren Komplexität als stets gesellschaftsinterne Analyse niemals übertreffen.

Auch hier wirkt eine Bezugnahme auf ein gesellschaftliches "Wir" in der vermeintlich grundsätzlich vollständigen Abzählbarkeit von mittlerweile etwa acht Milliarden Menschen trügerisch.