Automatisierte Kommunikation

Eine kommunikationstheoretische Einordnung des Chatbots ChatGPT

In den Sozialwissenschaften gibt es zwei fundamental unterschiedliche Auffassungen, was unter Kommunikation zu verstehen ist. Angelehnt an das Alltagsverständnis und daher auch in den Sozialwissenschaften dominant, gehen "handlungstheoretische" Vorstellungen von Kommunikation davon aus, dass diese instrumentellen Charakters ist.

Es sind Menschen in ihrer physisch-psychischen Kompaktheit, die mittels Kommunikation, sei dies in mündlicher oder schriftlicher Form, Informationen austauschen. Kommunizierende werden nach dieser Vorstellung wechselseitig als Sender bzw. Empfänger von Informationen verstanden.

Kommunikation dient der mehr oder minder erfolgreichen Übertragung von Informationen von Mensch zu Mensch.

Davon paradigmatisch zu unterscheiden sind "systemtheoretische" Vorstellungen von Kommunikation, wie sie wesentlich von dem 1998 verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann in Vorschlag gebracht wurden.1

Nach diesem Paradigma wird behauptet, dass ihr "Eigenleben" charakteristisch ist. Kommunikation zeichnet sich durch ihre rekursive Eigendynamik aus, welche die Möglichkeiten der Kommunizierenden begrenzt, diese zu steuern und zu beeinflussen.

Gemäß dieser Konzeption befindet sich individuelles Bewusstseins – in ihrer je gedanklichen Eigendynamik – in der Umwelt von Kommunikationssystemen und vermag diese mittels Sprache lediglich zu irritieren, nicht aber kontrollierend zu determinieren.

Dies schon deshalb nicht, weil in Kommunikationssystemen, etwa einem Gespräch als einem "Interaktionssystem", mindestens zwei bewusste Systeme mit ihrer je unterschiedlichen gedanklichen Eigendynamik beteiligt sind.

Die Alltäglichkeit automatisierter Kommunikation

Mit Blick auf Alltagskommunikation wird nach dieser theoretischen Auffassung verständlich, warum (Streit-)Gespräche "ausarten" und in ihrer Dynamik zum Eklat führen können. Dies gleichwohl keiner der Beteiligten - dann mit Referenz auf die gedankliche Ebene ihres Bewusstseins - dies "so gewollt" haben mag oder sie von der Heftigkeit der Auseinandersetzung "überrascht" wurden; diese Beobachtungen als Kennzeichen dafür, dass keiner der Kommunizierenden Kommunikation unter Kontrolle hatte.

Die charakteristische Eigendynamik von Kommunikation macht sich im Alltagsleben etwa auch in "Smalltalks" oder Telefongesprächen bemerkbar bzw. kann in diesen Formen von Kommunikation genutzt werden. Dann nämlich, wenn Kommunikation trotz weitgehendem (einseitigem) Unbeteiligtsein des Bewusstseins bzw. trotz gedanklicher "Abwesenheit" aufrechterhalten werden kann.

Es ist in diesen Fällen, in denen Bewusstsein gedanklich mit ganz anderen Themen beschäftigt sein mag, oft ausreichend, den kommunikativen Fluss mittels sprachlicher Floskeln zu bestätigen ("Ja, ja", "Stimmt", "Ja, klar", "Verstehe", "Mhm Mhm" etc.). Mit Seitenblick auf den Chatbot ChatGPT kann festgehalten werden, dass auch im Alltag eine weitgehend "automatisierte" Kommunikation, eine Kommunikation, bei der eine bewusste, gedankliche Beteiligung gewissermaßen auf "Sparflamme" erfolgt, nicht unbekannt ist.

Mittels "Big Data" und künstlicher neuronaler Netzwerke können Chatbots mittlerweile die Wahrscheinlichkeit von plausiblen Antworten auf Fragen errechnen. Festzuhalten ist allerdings, dass auch das Bewusstsein die Wahrscheinlichkeit gut abzuschätzen vermag, wann bestätigende Floskeln ("Ja, ja") ausreichend sind, um einen kommunikativen Fluss trotz gedanklich weitgehend andersartiger Beschäftigung aufrechtzuerhalten.

Bei diesen Formen von automatisierter Kommunikation ist Widerspruch oder eine Ablehnung von Mitteilungen tunlichst zu vermeiden und zumindest ein Rest an Wahrnehmungskapazität für kommunikative Brüche ("Hörst du mir überhaupt zu?!") aufrechtzuerhalten.

Radikale Schlussfolgerung aus der systemtheoretischen Auffassung von Kommunikation als eines eigendynamischen, selbstreferentiellen Geschehens ist, dass nicht Personen (Menschen, Individuen, Subjekte) kommunizieren, sondern vielmehr Kommunikation kommuniziert: "Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren."2

Die Bezugnahme auf Personen, Menschen, Subjekte als "soziale Adressen" – ohne die Kommunikation sich offenkundig selbst nicht verstehen könnte – erscheint aus Sicht der Systemtheorie dem kommunikativen Geschehen nachgeordnet. Es sind erst mittels Kommunikation erzeugte Strukturen, kommunikativ erzeugte Erwartungen, die Kommunikation selbst wiederum Struktur geben, ihr also eine zu erwartende Vorzugsrichtung geben.

Die Paradoxie von "Identität" als variabler Größe

Auf diese Weise wird verständlich, wie sich in der modernen Gesellschaft unterschiedliche gesellschaftliche Identitäten oder Personalitäten herausbilden können. Es erstaunt wenig, dass sich im Berufsleben eine Managerin die Identität einer, kalten, hartherzigen, über "Leichen gehenden" Autokratin erarbeiten kann, während ihr im familiären Umfeld die Persönlichkeit eines warmherzigen, empathischen, rücksichtsvollen "Familienmenschen" mit ganz anders gearteten Erwartungen zugeschrieben wird.

Auch das Phänomen der Hochstapelei wäre nicht zu verstehen, wenn spezifische Personalität und damit das Paradox einer kontingenten, variablen "Identität" nicht eine Kategorie wäre, die Kommunikation nachgeordnet ist, erst kommunikativ erzeugt wird.

Es erstaunt nicht, dass das systemtheoretische Verständnis, welches Kommunikation nicht als informativen Austausch zwischen Menschen versteht, nicht nur gesellschaftlich kaum überzeugt, sondern es auch spezifisch in der Wissenschaft ein Nischendasein fristet. Das Alltagsverständnis von Kommunikation ist zu dominant – selbst in den Sozialwissenschaften –, als dass das Diktum, dass "Kommunikation kommuniziert", breit gefächert überzeugen könnte.

Es widersetzt sich der unmittelbaren Plausibilität, dass Kommunikation rekursiv nur an eigene Operationen anzuschließen vermag, gedankliche Operationen hingegen in der Umwelt sich kommunikativ konstituierender Systeme anzusiedeln sind. Wobei Sprache in der Unterschiedlichkeit dieses System-Umwelt Verhältnisses dazu dient, sowohl Bewusstsein in ihrer gedanklichen als auch soziale Systeme in ihrer kommunikativen Rekursion bzw. Eigendynamik aufrechtzuerhalten.

Dabei sind wechselseitige kreative Überraschungen, Abweichungen vom Erwarteten gerade deshalb möglich, weil Kommunikation und Bewusstsein nicht unmittelbar miteinander verknüpft sind.

Damit ist noch nichts über die Wahrhaftigkeit des abstrakten systemtheoretischen Verständnisses von Kommunikation gesagt. Schließlich entscheidet nicht das Alltagsverständnis über den (vorläufigen) Wahrheitsgehalt von wenig anschaulichen wissenschaftlichen Konzepten, sondern Kommunikation im Funktionssystem der Wissenschaft. In der Physik etwa kann begrifflichen Konzepten wie "Raumkrümmung", "Zeitdilatation" oder "Superposition", die von der Warte eines Alltagsverständnisses abstrus erscheinen, dennoch Wahrheit zugesprochen werden.

Chatbots aus systemtheoretischer Perspektive

Mit Blick auf moderne Chatbots wie ChatGPT drängt sich auf, dieses Phänomen aus der Beobachtungsperspektive eines systemtheoretischen Verständnisses von Kommunikation zu untersuchen. Charakteristisch ist hier nämlich, dass Kommunikation in zumindest rudimentär sinnvoller Form möglich ist, gleichwohl die Beteiligung von Menschen bzw. bewussten, gedanklich operierenden Systemen – als Fragen, Anweisungen oder Feedback gebenden Instanzen – massiv eingeschränkt ist. Jedenfalls ist bei dieser Form der Kommunikation nicht davon auszugehen, dass es sich um einen informativen Austausch zwischen (menschlichen) Personen handelt.

Aus handlungstheoretischer Perspektive würde wohl konstatiert, dass es sich in diesem Fall nicht um "richtige Kommunikation" handelt, sondern lediglich um eine Simulation von Kommunikation mit "richtigen Menschen". Diese Einschätzung wird allerdings kaum dem schon derzeit bestehenden, geschweige denn dem zukünftigen Potential dieser Technik gerecht; etwa was die Konstruktion von sinnvollen Texten betrifft.

Auch mag in handlungstheoretischer Beobachtung dieses Phänomens schon jetzt (wohl irrtümlich) aus der Komplexität der mittels Chatbots ermöglichten Kommunikation geschlussfolgert werden, dass künstliche Intelligenz Personalität bzw. Bewusstsein erlangt haben könnte; prominent angenommen etwa von einem (ehemaligen) Software-Spezialisten von Google.

Aus systemtheoretischer Perspektive stellt sich die Frage gar nicht, ob die mittels Chatbots ermöglichte Kommunikation darauf hindeutet, dass künstliche Instanzen mittlerweile so etwas wie Personalität, Identität oder Bewusstsein erlangt haben könnten. Es ist aus dieser Perspektive stets nur Kommunikation, die kommuniziert. Personalität, Subjektivität, ein Mensch-Sein oder eine Identifizierung von Bewusstsein sind als kommunikativ ermöglichte Zuschreibungen zu verstehen.

Es sind Zuschreibungen, die Kommunikation nachgeordnet sind. "Menschen" sind in der Systemtheorie nicht als eine Kommunikation vorgeordnete, vorausgesetzte, erst Kommunikation ermöglichende Instanz zu verstehen - vielmehr ist es umgekehrt: Erst (komplexe) Kommunikation ermöglicht eine, wie Googles Software-Spezialist zeigte, allenfalls irrtümliche, Zuschreibung von Attributen "menschlichen" Daseins.

Der Turing-Test in systemtheoretischer Beobachtung

Gemäß unserer Perspektive wird notwendig, den Turing-Test an ein systemtheoretisches Verständnis von Kommunikation anzupassen. Gemeinhin wird in handlungstheoretischer Orientierung angenommen, dass mit Bezug auf komplexe Kommunikation Bewusstsein, ein allenfalls künstliches "menschliches Denken" nachweisbar wäre: Wäre es möglich, dass nach einem Gespräch mit einer artifiziellen Intelligenz nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich um einen Menschen handelte, mit dem kommuniziert wurde, müsste dieser Intelligenz die Kapazität menschlichen Denkens zugesprochen werden.

Aus systemtheoretischer Perspektive weist der Turing-Test allerdings lediglich nach, dass Kommunikation allenfalls so komplex werden kann, dass sie – auch irrtümliche – Zuschreibungen von Kommunikation auf "Menschen", "Persönlichkeit" oder "menschliches Denken" erlaubt. Insofern kann der Turing-Test lediglich eine Tautologie nachweisen - nämlich mittels komplexer Kommunikation indizieren, dass Kommunikation so komplex wurde, dass sie eine kommunikative Zuschreibung von sozialen Adressen mit Bewusstsein erlaubt.

Dies liegt daran, dass es gemäß eines systemtheoretischen Verständnisses von Kommunikation ohnehin nur Kommunikation ist, die kommunizieren kann. Weder Menschen, künstliche Intelligenzen, artifizielle Persönlichkeiten noch sonstige "Einheiten" können kommunizieren.

Wenn es fundamental Kommunikation in ihrer Eigendynamik ist, die kommuniziert, dann muss das Problem, welches durch den Turing-Test angezielt wird, anders gefasst werden. Zunächst festzuhalten ist, dass es in jedem Fall einer komplexen Umwelt bedarf, damit sich Systeme auf kommunikativer Basis, Systeme, welche sich selbst rekursiv mittels kommunikativer Operationen reproduzieren, konstituieren können.

Bislang war diese Umwelt ausschließlich in Form von rekursiven gedanklichen Operationen auf Basis von bewussten Systemen gegeben, die durch Sprache irritierbar sind und ihrerseits wiederum der komplexen Umwelt neuronaler Systeme (Gehirne) bedürfen.

Dabei sorgt die Determiniertheit von kommunikativen bzw. bewussten Systemen durch eigene Strukturen auf Basis unterschiedlicher Operationen (Kommunikation versus Gedanken bzw. Wahrnehmungen) dafür, dass es mittels Sprache zu kommunikativer und gedanklicher Kreativität kommen kann.

Soziale, kommunikativ operierende Systeme vermögen als Umwelt des Bewusstseins vermittels Sprache gedanklich zu irritieren bzw. zu überraschen. Aber auch umgekehrt vermag das Bewusstsein vermittels Sprache Kommunikation zu frappieren. Neue, überraschende, von Erwartungen abweichende Kommunikation bzw. Gedanken ergeben sich also gerade dadurch, dass gedankliche und kommunikative Operationen nicht koordiniert sind; etwa im Sinne einer (wechselseitigen) Codierung, um als Informationen übertragen zu werden.