Automatisierte Kommunikation

Seite 2: Die Form der Umweltkomplexität von Chatbots

In Bezug auf aktuelle, fortschrittliche Chatbots stellt sich nun die Frage, wie deren Umwelt disponiert ist, dass sie trotz massiver Einschränkung gedanklicher Operationen überraschende oder kreative Kommunikation ermöglicht, etwa bei der Erstellung von Essays oder Gedichten.

Bei der Nutzung dieser Chatbots ist von einer bewussten, gedanklich operierenden Umwelt lediglich auf Seiten des Nutzers, in seinen Fragen, Instruktionen, Rückmeldungen, auszugehen. Ferner ist dies auch bei der technischen Konstruktion und Unterhaltung der Chatbots und beim Training der künstlichen neuronalen Netzwerke der Fall.

Wir gehen davon aus, dass es wesentlich die kommunikative Komplexität der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist, der sich Chatbots wie ChatGPT als Umwelt ihres Funktionierens bedienen. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie unterschiedliche Funktionssysteme wie etwa Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Massenmedien ausdifferenziert.3

Dabei folgen diese, auf kommunikativer Basis operierenden Systeme ihrer eigenen, selbstreferentiellen funktionalen Logik. So geht es Politik darum, mittels Macht allgemeingültige, nach Möglichkeit dem Gemeinwohl zuträgliche Normen zu etablieren, während es Wirtschaft darum geht, anhand des Kriteriums der Profitabilität eine Allokation von Waren und Dienstleistungen gesellschaftlich abzusichern.

Hingegen geht es bei wissenschaftlicher Kommunikation darum, orientiert an Wahrheit, neues, bislang unerhörtes Wissen zu generieren. Entscheidend ist, dass diese funktionalen Logiken disparat sind, sich nicht aufeinander abbilden lassen. Allenfalls, wenn dies gesellschaftlich dennoch geschieht, etwa politische Entscheidungen gekauft oder Wahrheiten durch politische Opportunitäten gebeugt werden, wird dies (nachträglich) als Korruption abqualifiziert.

Während bislang kommunikative wie gedankliche Kreativität durch ein Aufeinandertreffen der disparaten, nicht aufeinander abzubildenden, selbstreferentiellen Logiken von bewussten und kommunikativen Systemen vermittels Sprache erfolgte, ergibt sich die kommunikative Kreativität moderner Chatbots durch ihre Bezugnahme auf die disparaten Eigenlogiken der Funktionssysteme der Gesellschaft.

Vermittels künstlicher neuronaler Netzwerke trainiert werden moderne Chatbots nämlich undifferenziert mit einer Unmenge an in digitaler Form vorliegenden Daten (Texten), auf die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zugegriffen werden konnte. Dies ungeachtet davon, ob es sich um Texte wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, politischer, erzieherischer, künstlerischer, etwa literarischer, massenmedialer oder sonstiger funktionaler Eigenart handelt.

Den unterschiedlichen Eigenlogiken gesamtgesellschaftlicher Kommunikation wird also eine Verarbeitungslogik von künstlichen neuronalen Netzwerken aufgeprägt. Nämlich ausgehend von vorgegebener Kommunikation, festgelegt durch Fragen oder Instruktionen von Nutzern bzw. auf inkrementelle Weise vorgegeben durch den jeweiligen kommunikativen Output der Chatbots, möglichst wahrscheinliche Anschlusskommunikation zu ermitteln.

Die Umweltkomplexität in Form von gedanklichen Operationen (Bewusstsein), etwa als Informatiker, Nutzer, Trainierende, ist hingegen eingeschränkt bzw. harrt der Erstellung von Texten, die zukünftig mittels gedanklicher Umweltkomplexität - nunmehr allerdings unter allfälliger Zuhilfenahme von Chatbots - erstellt werden.

Aus dieser Disposition ergibt sich die Beschränkung der durch Chatbots erreichbaren kommunikativen Kreativität bzw. Originalität. Zu konstatieren ist, dass die Umweltkomplexität der Gesellschaft im Sinne gedanklicher Operationen – in der individueller Eigenlogik von aktuell etwa acht Milliarden bewussten und durch Sprache irritierbaren Systemen – ungleich höher ist als diejenige, die sich aus der kommunikativen Komplexität der verschiedentlichen funktionalen Eigenlogiken der modernen Gesellschaft ergibt.

Immerhin ist davon auszugehen, dass sich die kommunikative Komplexität der modernen Gesellschaft mithin durch die Etablierung von Chatbots steigern wird. In jedem Fall gilt: Weder Chatbots noch der Gesellschaft ist die Komplexität gedanklicher Operationen unmittelbar zugänglich. In Unmittelbarkeit erreichbar ist Kommunikation nur Kommunikation; ganz so, wie unmittelbar Gedanken nur durch Gedanken erreichbar sind.

Die Kontingenz kommunikativer Zuschreibungen

Die kommunikative Zuschreibung von Kommunikation auf Adressen ("Menschen"), war seit jeher, seit dem sozial-evolutionären Auftauchen der ersten als Kommunikation zu verstehenden (lautsprachlichen) Äußerungen ein Problem. Allerdings hängt es von der Form der Kommunikation ab, wie komplex auf ihr beruhende Beobachtungen werden können.

In sich lediglich mündlich reproduzierenden Gesellschaften, wie Stammesgesellschaften bzw. wesentlich auch noch hierarchisch strukturierten (Feudal-)Gesellschaften, musste Kommunikation mit dem Auftauchen und Verschwinden von Menschen gleichgesetzt werden.

Diese Disposition plausibilisiert, dass Kommunikation als ein "Instrument" zu verstehen ist, das Menschen zur Verfügung steht, um Informationen zu übertragen. Dieses Paradigma ist es, das bis heute das Alltagsverständnis von Kommunikation, bis hin in die handlungstheoretisch orientierten Sozialwissenschaften, fundiert.

Stammesgesellschaften und hierarchisch strukturierte Gesellschaften waren durch die Form ihrer kommunikativen Reproduktion derart disponiert, dass es ihnen unmöglich war, das Problem der Zuschreibung von Kommunikation auf Individuen auch nur als Problem zu erkennen.

Erst schriftliche Kommunikation und insbesondere die gesellschaftliche Etablierung des Buchdrucks (Buchkultur) erlaubte anhand von Anonymität oder Pseudonymität Adressabilität oder Autorschaft von Kommunikation zumindest in Frage zu stellen; wenn auch, bis heute, kaum grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, dass eine Zuschreibung von Kommunikation auf (menschliche) Individuen ein Phänomen ist, dass Kommunikation nachgeordnet ist. Dies, zumal schriftliche Mitteilungen (etwa in Form von Briefen) handgreiflich als "Träger" von Informationen von Mensch zu Mensch zu beobachten sind.

Immerhin kann in der modernen, sich maßgeblich schriftlich reproduzierenden Gesellschaft die Zuschreibung von Kommunikation problematisiert werden (Richard David Precht: "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?"). Menschliche "Identität" ist nunmehr keine fraglos gegebene Selbstverständlichkeit wie vormals noch in Stammes- und Feudalgesellschaften. Die moderne, sich vorherrschend schriftlich reproduzierende Gesellschaft mit ihrer Kultur des Buchdrucks ermöglicht die Ausdifferenzierung von Organisationen oder Funktionssystemen wie etwa Politik, Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft.

Der Bestand dieser sozialen Phänomene ist vom rekursiven Erhalt ihrer eigenen kommunikativen Operationen abhängig und nicht vom unmittelbaren Auftauchen oder Verschwinden individueller Menschen. Es plausibilisiert sich nunmehr (mit Niklas Luhmann), dass soziale Phänomene, ja die Gesellschaft selbst, nicht aus Menschen, sondern aus der Rekursivität kommunikativer Operationen bestehen. Wobei für die Existenz sozialer Systeme die Komplexität der gedanklichen Umwelt in Form von bewussten Systemen unabdingbar ist.

Die Technisierung des systemtheoretischen Verständnisses von Kommunikation

Mit den modernen, auf digitalen Formen der Kommunikation beruhenden Chatbots ist es schließlich möglich, die Kontingenz der Zuschreibung von Kommunikation auf Individuen ("Menschen") nicht mehr nur abstrakt zu problematisieren, sondern das Diktum der Systemtheorie ("Kommunikation kommuniziert") vollends konstruktiv, nämlich technisch auszunutzen. Dabei ist, wie bereits erwähnt, die komplex funktional ausdifferenzierte Gesellschaft vorausgesetzt; Chatbots sind ein Korrelat der modernen Gesellschaft.

Es war – im Rückblick – stets so, dass es nicht Menschen waren, die kommunizierten, sondern die Zuschreibung von Kommunikation auf "Menschen", "Subjekte" oder "Individuen", eine Kommunikation nachgeordnete und mittels Kommunikation ermöglichte Leistung ist. Die mittels digitaler Kommunikation realisierten Chatbots indizieren als offenkundig funktionierende technische Konstrukte, dass Kommunikation nicht durch menschliche Individuen erfolgt, sondern es Kommunikation ist, die kommuniziert.

Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wird auf diese Weise empirisch, selbst im Sinne eines Pragmatismus’, ein Verständnis von Kommunikation im Sinne der Systemtheorie plausibilisiert.

Dies wird allerdings kaum etwas am Alltagsverständnis ändern, das davon ausgeht, dass Kommunikation dazu dient, Informationen von Mensch zu Mensch zu übertragen. Genau auf diese Weise funktioniert eben Alltag. Über den Wahrheitsgehalt dieses Konzepts, also auf wissenschaftliche Kommunikation bezugnehmend, ist damit allerdings, wie bereits bemerkt, nichts gesagt.

Im alltäglichen Handeln mit Dingen oder Objekten sind schließlich auch "Raumkrümmungen" oder "Zeitdilatationen" nicht zu berücksichtigen; gleichwohl diese (begrifflichen) Phänomene zum aktuell etablierten wahren Wissen gehören.

Es mag allerdings sein, dass wissenschaftliche Behauptungen über Alltagskommunikation auf Alltagskommunikation verstörender oder empörender wirken (wie möglicherweise in den Kommentaren zu diesem Text zu lesen sein wird), als naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die sich auch auf unvertraute (kosmologische) Sachverhalte beziehen können. Dies schlicht deshalb, weil auf diese Weise die Vertrautheit und definitionsgemäße Zweifellosigkeit alltäglicher Kommunikation in Zweifel gezogen wird.

Problembewältigung kontingenter Zuschreibung von Kommunikation

Mit modernen Chatbots wird das Problem der Zuschreibung von Kommunikation auf individuelle Adressen virulent. Ein Problem, das in (Stammes-)Gesellschaften, die sich mittels mündlicher Kommunikation reproduzierten, immer schon, quasi inhärent gelöst war. Auch die moderne Gesellschaft ist in allen ihren Funktionssystemen davon abhängig, dass Kommunikation individueller Personalität zugeschrieben werden kann.

Es erstaunt deshalb nicht, dass insbesondere Funktionssysteme wie die Wissenschaft oder das Erziehungssystem, die maßgeblich von der Zuschreibung von Leistungen auf individuelle Adressen abhängig sind, auf Gefahren bei der Nutzung von Chatbots hinweisen.

Wobei kurioserweise die Definition von Plagiaten, nämlich als Aneignungen fremden geistigen Eigentums, auf eine nunmehr fragwürdig gewordene soziale Welt verweist, bei der Geistestätigkeit ausschließlich als eine individuellen menschlichen Adressen zuzuordnende Leistung verstanden wurde.

Es bleibt festzuhalten, dass mit den modernen Chatbots kein grundsätzlich neues Problem aufgetaucht ist, sondern der Fakt, dass die Zuschreibung von Kommunikation auf soziale Adressen ein Konstrukt von Kommunikation ist, lediglich offenkundig geworden ist. Insofern ist von "business as usual" auszugehen, um z.B. das Problem der individuellen Zuschreibungen von Studienleistungen (etwa durch vermehrte mündliche Prüfungen?) in den Griff zu bekommen.

Ob künstliche Intelligenz dabei hilfreich sein kann, Formen der künstlichen Intelligenz zu entlarven, die daraufhin konstruiert bzw. trainiert werden, nicht als künstliche Intelligenz entlarvt zu werden, erscheint zumindest fragwürdig.

Ohnehin sollte nicht aus dem Blick geraten, dass ein Problem der digitalen Kommunikation nicht lediglich darin liegt, dass fragwürdig werden kann, welchen sozialen Adressen Kommunikation zuzurechnen ist.

Die Kehrseite digitaler, auf Nutzerprofilen basierender Kommunikation ist nämlich, dass diese hyperstabil Individuen (Nutzerprofilen) zugeordnet werden kann – und damit ebenso auf "unmenschliche" Weise, wenn auch in anderer Form. Dies kann z.B. dazu führen, dass (lässliche) Jugendsünden Jahre später noch Probleme bei der Etablierung beruflicher Karrieren zur Folge haben.