Nebenwirkung der Corona-Krise: Volkskrankheit Depression im Aufwind

Symbolbild: Engin Akyurt auf Pixabay (Public Domain)

Die Nachfrage nach Therapieplätzen ist gestiegen, in einer Twitter-Kampagne zerstören Betroffene Illusionen - und sogar die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf

Wer unter dem Twitter-Hashtag #FaceTheDepression nur nach offensichtlich traurigen Gesichtern sucht, wird sich wundern: Zu einem großen Teil "enttarnen" sich hier nachträglich Menschen, die während einer Depression scheinbar zufrieden oder sogar fröhlich in die Kamera gelächelt haben. "Das Bild ist alt und während der schlimmsten depressiven Phase entstanden", schreibt eine Nutzerin über ein solches Foto. Eine andere: "So kann eine Frau aussehen, die jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit überlegt, ob sie heute wieder in den Zug steigt - oder doch lieber davor aufs Gleis geht."

Warum diese Tarnung für nötig gehalten wurde, wird auch erklärt: In der schlimmsten Phase einer Depression rechnen Betroffene in der Regel mit Unverständnis - sei es, weil sie diese Erfahrung bereits gemacht haben oder weil sie befürchten, dass Außenstehende keinen hinreichenden Grund für ihre Niedergeschlagenheit erkennen könnten.

Aktuell scheint so ein "Outing" auch deshalb möglich zu sein, weil zahlreiche Medien über einen Anstieg von Depressionen während der Corona-Pandemie berichten - und weil sich dadurch vielleicht auch die Unangemessenheit von die Reaktionen wie "Reiß dich mal zusammen" herumspricht. Noch seltener als sonst stimmt der Einwand "Aber du kannst doch mit deinem Leben zufrieden sein", wenn die Gründe für Zukunfts- und Existenzängste durch Lockdown-Maßnahmen objektiv zunehmen und Einsamkeit durch Kontaktbeschränkungen verstärkt wird.

Besonders hoher Anstieg bei Kindern und Jugendlichen

Die Nachfrage nach Therapieplätzen für Menschen mit psychischen Problemen ist seit Beginn der Corona-Krise stark gestiegen - nach Angaben der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung für Erwachsene um 40 Prozent und für Kinder und Jugendliche sogar um 60 Prozent. Eine Folge sind Versorgungslücken. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) wurde in dem Bundesland im Februar 2021 viermal häufiger eine Akut-Therapie angefragt als im Vorjahresmonat.

"Allein" waren die Betroffenen aber schon vorher nicht - zumindest nicht in dem Sinne, dass die Depression eine seltene Krankheit gewesen wäre. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren schon 2015 rund 322 Millionen Menschen betroffen - 4,4 Prozent der Weltbevölkerung und gut 18 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums erkranken schätzungsweise 16 bis 20 von 100 Menschen im Lauf ihres Lebens mindestens einmal an einer Depression oder einer "chronisch depressiven Verstimmung". Seit mehreren Jahren ist in diesem Zusammenhang die Rede von einer Volkskrankheit.

Erstaunlicher Weise sieht die Bundesregierung darin zumindest teilweise eine Reaktion auf die jeweiligen Lebensumstände im aktuellen Wirtschaftssystem: "Oft nehmen verschiedene Lebenswelten positiven oder negativen Einfluss auf die Gesundheit, sei es der Arbeitsplatz, die Schule oder Universität, die Familie oder der Freundeskreis", heißt es in einem Flyer, in dem sie zur Aktionswoche der Offensive Psychische Gesundheit einlädt. An der Online-Veranstaltungsreihe vom 15. bis zum 19. März können Interessierte kostenlos teilnehmen.

Die Geister, die sie riefen

Mitveranstalter ist ausgerechnet die Initiative Neue Qualität der Arbeit, die 2002 von Bund, Ländern, Unternehmen, Sozialversicherungsträgern und Gewerkschaften gegründet wurde - auf Vorschlag des damaligen Arbeitsministers Walter Riester (SPD) als Reaktion auf Bedenken gegen die damals geplanten "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010. Letztere bedeuteten für Bezieher von Lohnersatzleistungen real Sanktionsdruck und Zumutbarkeitsregeln, die auch und gerade bei Menschen mit depressiven Symptomen zu Leistungskürzungen führen mussten.

Laut der vorläufig letzten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung zu diesem Thema kämpfte 2013 mehr als jeder dritte Bezieher von Arbeitslosengeld II mit psychischen Problemen - darunter sowohl Menschen, die durch eine psychische Erkrankung in das Hartz-IV-System gerutscht waren, als auch solche, die erst in diesem System psychisch krank geworden waren.

Als Risikogruppe für Depressionen gelten aber keineswegs nur antriebsarme Menschen, sondern auch solche, die besonders viel von sich fordern und den Leistungsidealen der spätkapitalistischen Gesellschaft zumindest zeitweise gerecht werden.

Dass es immer mehr Betroffene gibt, könnte zumindest den Kollateralnutzen haben, dass deren Stigmatisierung abnimmt und mehr über die gesellschaftlichen Ursachen gesprochen wird.

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