Neoliberale Selbstverteidigung

Marktfundamentale Ökonomen weisen jede Schuld an der Finanzmarktkrise zurück - mit eher drolligen Argumenten

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Bevor der Finanzmarktcrash den neoliberalen Theorien eine klare Absage erteilt hat, schien die Mainstream-Ökonomie in ein goldenes Zeitalter eingetreten zu sein. Ben Bernanke, zuvor führender Wirtschaftsprofessor und heute Chef der USA-Notenbank, pries die „Great Moderation“, die weltweite makroökonomische Stabilität der vergangenen zwei Jahrzehnte, und führte sie teilweise auf die gelungene Geldpolitik, noch mehr aber auf die inhärente Stabilität der Finanzmärkte zurück.

Wie Paul Krugman Anfang September in seiner NY-Times-Kolume (How Did Economists Get It So Wrong?) betonte, hatte sich unter den maßgeblichen Finanzökonomen die Ansicht durchgesetzt, dass allein die Märkte imstande wären, den „richtigen“ Preis für Anlagegüter zu finden. Könnten die Marktkräfte sich nur frei entfalten, dann würden sich die Märkte selbst regulieren, maximalen Wohlstand schaffen und dabei ganz ohne ernste Krisen auskommen.

Ausgangspunkt dieser „Süßwasser-Ökonomen“ – so bezeichnet Krugman diese Schule, da die meisten ihrer Vertreter vor allem aus Chicago und von anderen Universitäten im Landesinneren kommen - ist die Überzeugung, dass der Mensch grundsätzlich rational handle und dass Märkte „funktionieren“. Aus diesen Prämissen bauten sie mathematisch konsistente Modelle, die ihrer Meinung nach die Realität richtig abbilden wollen. Zwar habe es laut Krugman stets auch „Salzwasserökonomen“ (von Universitäten in Küstengebieten wie LA oder NY) gegeben, die nicht an die alleinseligmachende Wirkung der Märkte glauben wollten. Insbesondere waren sie oft schon nicht bereit, die von den Marktfundamentalisten als Markt charakterisierten Systeme überhaupt als solche zu bezeichnen, und schon gar nicht wollten sie, wie die Marktfundamentalisten, die Möglichkeit des Marktversagens ausschließe. Doch wurden ihre Einwände vom herrschenden Mainstream entweder ignoriert oder als unwissenschaftlich abgetan.

Das ist inzwischen freilich Schnee von gestern und die neoliberalen Ökonomen und ihr „Marktfundamentalismus“ gelten heute als zumindest mitverantwortlich für den Zusammenbruch, was diese aber offenbar nicht so einfach hinnehmen wollen. Viel mehr scheinen sie verzweifelt nach alternativen Begründungen zu suchen, die sich im Rahmen ihrer Modelle darstellen lassen und die Schuldlosigkeit ihrer Denkschule belegen sollen.

Einen ersten „offiziellen“ Höhepunkt erreichte diese Selbstverteidigung mit dem Auftritt von Ricardo J. Caballero, einem Wirtschaftsprofessor aus Massachusetts, diesen Sommer beim Notenbanktreffen in Jackson Hole, dem hochkarätigsten Treffen der internationalen Finanzökonomen und Geldpolitiker. Caballero, der Telepolis-Lesern durch seine „Dark Matter“-These bekannt ist, durfte das Eröffnungsreferat halten und gab dann auch gleich eingangs bekannt, dass er von den gängigen Erklärungen - er nennt explizit mangelnde Regulierung, die Immobilienblase, übermäßiges Leverage und zu geringes Eigenkapital der Banken - wenig hält. Beschränke man sich auf diese Begründungen, so würde man „sich bei der Vermeidung künftiger Krisen zu sehr auf konventionelle Maßnahmen konzentrieren, die sich bereits als dafür nicht ausreichend erwiesen haben“. Noch schlimmer sei dass man so zudem „die Finanzmärkte durch überhöhte Kapitalanforderungen und zu starkes Deleveraging ersticken“ würde. Um nicht in diese „intellektuelle Falle“ zu geraten präsentiert Caballero seine eigene Begründung für den Zusammenbruch, die implizit erklärt, warum neoliberale Ökonomen wie er so weit daneben liegen konnten, bzw. ja eigentlich gar nicht falsch gelegen sind.

Seine wichtigste Begründung für die Krise ist demnach das Auftreten einer „signifikant negativen Überraschung“, bei der aus „bekannten Unbekannten unbekannte Unbekannte“ werden und verweist auf „knightian uncertainty“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Knightian_uncertainty). Solche Überraschungen bestünden eben nicht aus einem schweren negativen makroökonomischen Schock, wie ihn die Marktteilnehmer hätten voraussehen können, sondern bestünden aus dem „überraschenden Auftreten einer völlig neuen und verwirrenden Entwicklung, die die Märkte in Panik versetzt und eine Flucht in die Qualität auslöst“. Es sei auch nicht das übermäßige Leverage im Finanzsystem, das die Krise zu verantworten habe, denn dieses habe überwiegend positive, konjunkturstimulierende Wirkungen. Zudem sei vor der jüngsten Krise zwar hoch gewesen, aber auch nicht viel höher als in anderen Rezessionsphasen, die nicht zu einem solchen Zusammenbruch geführt hätten. Verantwortlich sei hingegen die „exzessive Konzentration aggregierten Risiken in stark fremdfinanzierten, systemisch bedeutenden Finanzinstituten“. Denn durch eine falsche Interpretation der guten Ratings vieler dieser Anlageprodukte sei deren „aggregierte Anfälligkeit“ für negative Überraschungen unterschätzt worden, die schlagend wurde, als die systemische Konfusion dann ausgebrochen ist. Letztendlich sei auch die Reaktion von Notenbanken und Politik viel zu spät erfolgt. Denn diese hätten die erforderlichen Aktionen erst gesetzt, nachdem mit der Pleite von Lehman das ganze Ausmaß der Probleme deutlich geworden sei. Hätten die Notenbanker in einer früheren Phase der Krise reagiert, wäre der Crash vermieden worden, meint Caballero.

Demnach gäbe es keine prinzipiellen Probleme damit, wie die ehemaligen Mainstream-Ökonomen über das Wesen der Märkte gedacht hatten, höchstens einen Mangel an Konsequenz. Und wie hätten die neoliberalen Ökonomen auch die „unbekannten Unbekannten“ voraussehen sollen. Viel mehr fehlte es laut Caballero schlicht und einfach an einem Mechanismus, der es der Geldpolitik ermöglicht hätte, superschnell auf die Krise zu reagieren, den Caballero im Rest seines Papers dann auch zu konzeptualisieren versucht.

Nicht ganz so prominent aber noch drolliger erscheint die Rechtfertigung, zu der sich Scott Sumner aufschwang, ein Marktfundamentalist, der seine Ausbildung unter anderem bei dem Erz-Neoliberalen Robert Lucas von University of Chicago erhielt und heute an der Bentley University in Waltham, Massachusetts, Ökonomie unterrichtet. So hätte laut Sumner (http://www.voxeu.org/index.php?q=node/3961) nicht etwa eine zu lockere Geldpolitik die Finanzkrise heraufbeschworen, sondern diese sei viel zu streng gewesen. Laut Sumner befänden sich die meisten Ökonomen (die inzwischen ja mehrheitlich das Gegenteil behaupten) jetzt in „totalem Widerspruch mit den Erkenntnissen der modernen Finanztheorie und glauben offenbar nicht an das, was sie selbst unterrichten: Nämlich dass es ein Trugschluss sei, eine lockere Geldpolitik mit niedrigen Leitzinsen gleichzusetzen“.

So hätte eine „extrem strenge Geldpolitik der USA und vielleicht auch Europas und Japans nach dem Juli 2008 zu einer scharfen Verringerung der nominellen Ausgaben“ geführt. Das was nun aber von den meisten Ökonomen ignoriert, die fälschlich behaupten die Fed hätte Ende 2008 vielmehr eine extrem lockere Geldpolitik verfolgt. Dazu muss Sumners freilich alle üblichen Anhaltspunkte für eine lockere Geldpolitik verwerfen. So sei die massive Ausweitung aller Geldmengenaggregate, die in der 2. Jahreshälfte zu beobachten war irrelevant, weil man nicht sicher sein könne, dass es sich dabei nicht um Sonderfaktoren handle. So hätte die Fed die Banken dazu gedrängt, die Liquidität, die die Fed zu diesem Zeitpunkt in die Märkte gepumpt habe, als Reserven bei der Fed zu horten (was sie dem Wirtschaftskreislauf entzieht) in dem sie diese ab Oktober verzinst und dadurch eine untere Zinsgrenze eingeführt habe. Dass auch die breiteren Geldmenge-Maßzahlen riesige Zuwächse verzeichneten, könnten laut Sumners nur auf Sondereffekte zurückzuführen sein. So sei es klar, dass vorsichtige Investoren ihre Finanzanlagen vermehrt in staatlich versicherte Bankguthaben umgeschichtet hätten, was die Geldmengenaggregate eben erhöht.

Was die offenbar extrem niedrigen Leitzinsen angeht, beruft Sumners sich auf die Vordenker des Neoliberalismus, Milton Friedman und Anna Schwartz, die schon 1963 demonstriert hätten, dass die nominalen Zinsen ein sehr schwacher Indikator für die Geldpolitik wären. Und würde man die inflationsbereinigten Realzinsen beachten, sei die Geldpolitik eben sehr streng gewesen, behauptet Sumner. Da die Preise in diesem Zeitraum tatsächlich stark eingebrochenen waren, erhält man im Nachhinein zwar tatsächlich real einen deutlich positiven Leitzins: Wie die Fed angesichts der bereits gegen Null tendierenden nominellen Leitzinsen nun aber überhaupt hätte weiter senken können, verschweigt der Ökonom. Auch die massive quantitative Geldmengenausweitung der Fed, die ihre Bilanzsumme im fraglichen Zeitraum über Anleihenkäufe mehr als verdoppelt hatte, will Sumners nicht als Anzeichen für eine geldpolitische Lockerung werten. Er möchte lieber andere, angeblich verlässlichere Indikatoren heranzuziehen um die Geldpolitik einzuschätzen: nämlich die Preise von Anlagegütern. Und diese seien Ende 2008 massiv und auf breiter Front eingebrochen, so dass die Geldpolitik laut Sumners sehr streng gewesen sein muss. Hier verweigert er freilich eine Erklärung dafür, warum das Geld-ähnlichste Anlagegut, die US-Staatsanleihen, in eben diesem Zeitraum erhebliche Preiserhöhungen verzeichnen konnten. Nun gibt Sumners zwar zu, dass die Leitzinsen um 2002/2003 „vielleicht ein wenig zu niedrig“ gewesen sein könnten. Das dürfe aber nicht als Grund für den Crash herangezogen werden. Denn man müsse – und das scheint der entscheidende Punkt seiner Argumentation zu sein – die Effizienz des Marktes ernst nehmen. Und dann werde klar, dass die Gründe für den Crash nicht lange zuvor aufgetreten sein könnten, sondern erst während des Crash. Bis zum Juli 2008 wäre demnach alles OK gewesen, dann habe die Fed den Fehler gemacht, die Zügel zu stramm anzuziehen und dadurch die Krise verursacht.

Da die Geldpolitik der Fed die Meinung der Mainstream-Ökonomie widerspiegle, sei laut Sumner deren ohnehin nur zaghaftes Abgehen vom Marktfundamentalismus verantwortlich für die Krise. Denn immerhin war angesichts der sich überall zeigenden Kreditexzesse und Ungleichgewichte auch vielen Ökonomen klar geworden, dass der Markt (d.h. die Preisbildung an der Wall Street) nicht immer optimal verläuft. Sumners: „Wenn ich mich nicht irre, war es eine massive intellektuelle Fehlleistung der Ökonomen. Der Fehler war, nicht an die eigenen Modelle geglaubt zu haben.“ So einfach ist das.