Netanjahu will die Hamas vernichten – und was will die Hamas?
Seite 2: Widerspruch zwischen Politik und Geschichtsinterpretation
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Auf den ersten Blick ein Widerspruch, der allgemein, von Politikern und Medien im Westen, Israel folgend, ausgelegt wird in Form von: Hamas erkennt Israel nicht an und will den jüdischen Staat vernichten (wobei ausgelassen wird, dass die Hamas die Zweistaatenlösung akzeptiert).
Der Widerspruch lässt sich jedoch auflösen. Es sind zwei unterschiedliche Ebenen, die auseinandergehalten werden müssen. Einerseits geht es um die reale politische Lösung zwischen den Konfliktparteien. Das ist die eigentliche Ebene, die von Relevanz ist, wenn es um eine Konfliktlösung geht.
Sicherlich muss man die Hamas testen, ob sie die Lösung am Ende in Verhandlungen (die ja nicht mit der Hamas, sondern mit der Palästinensischen Autonomiebehörde stattfinden, aber die Hamas sollte einbezogen werden) akzeptiert.
Die Nahost- und Gaza-Expertin Sara Roy von der Harvard University betont, dass die Hamas immer wieder signalisiert habe, bereit zu sein, die Lösung zu verhandeln.
Die Rechtmäßigkeit von Expansionen
Andererseits geht es um die (moralische) Interpretation des Geschehens und der Geschichte, letztlich darum, ob die Akteure den historischen Vorgang an sich akzeptieren.
Die Hamas stellt fest, dass sie (wie viele Palästinenser) die Rechtmäßigkeit des historischen Vorgangs nicht akzeptieren, der für sie den Verlust von großen Teilen ihrer Heimat bedeutet.
Heute geht es bei einer Zweistaatenlösung nur noch um 22 Prozent des historischen Palästina, die den Palästinensern für einen Staat zugesprochen werden. Im UN-Teilungsplan von 1948 war das noch bedeutend mehr, rund 42 Prozent. Die Palästinenser geben de facto völkerrechtliche Ansprüche auf. Das sollte man bedenken.
Man kann natürlich die Position vertreten, dass die Hamas und die Palästinenser die Rechtmäßigkeit des Staates Israels, große Teile Palästinas für sich zu beanspruchen, inklusive von Vertreibungen und der Erweiterung des Territoriums im Zuge des Sechstagekriegs von 1967, akzeptieren müssen. Aber das ist eine extreme Position.
Hauptsache: Anerkennung von internationalen Grenzen
Die Mexikaner:innen müssen sicherlich nicht die Rechtmäßigkeit akzeptieren, dass die USA auf über halb Mexiko sitzen, erobert im Krieg. Auch die Ukrainer:innen müssten in einer denkbaren Verhandlungslösung zur Befriedung des Kriegs nicht die Rechtmäßigkeit anerkennen, dass Russland die Kontrolle über die Krim und den Donbass, in welcher Weise und über welche Zeitdauer auch immer, zugesprochen wird (siehe auch Minsk-Abkommen).
Was von ihnen verlangt würde, ist, die internationalen Regeln, Grenzvereinbarungen und damit verbundenen Pflichten anzuerkennen, um die Eskalation des Konflikts und das Blutvergießen zu stoppen. Und das hat die Hamas im Falle Palästinas immer wieder erklärt: Wenn es einen Palästinenserstaat gibt, werde man die Feindseligkeiten einstellen, den Rest müsse die Zukunft zeigen.
Zudem muss der Maßstab bezüglich Rechtmäßigkeit auch für die andere Konfliktpartei gelten. Ich kann an dieser Stelle nicht darlegen, dass Israel mithilfe der USA auf UN-Ebene wie in den bilateralen Verhandlungen eine Zweistaatenlösung über Jahrzehnte zurückgewiesen hat (reichlich dokumentiert, wenn auch in den Medien verschwiegen, während offiziell erklärt wird, die Lösung verfolgen zu wollen).
Israelische Parteien in Regierungsverantwortung und Politiker haben darüber hinaus in der Knesset immer wieder das Recht der Palästinenser grundsätzlich zurückgewiesen, einen eigenen Staat in Palästina beanspruchen zu können, ganz zu schweigen von der Annexions- und Besiedlungspolitik in den besetzten Gebieten, die "Facts on the Ground" schafft, was einen Palästinenserstaat untergräbt.
Likud, Israel und die Friedensblockade
Heute erklärt die Netanjahu-Regierung sogar offen und ausdrücklich, keinen Palästinenserstaat zu akzeptieren.
Schon in der Gründungscharta der Likud-Partei von Benjamin Netanjahu von 1977, die bis heute nicht zurückgenommen wurde, hieß es: "Zwischen dem Meer und dem Jordan wird es nur israelische Souveränität geben."
Das Ziel, die Hamas mit einem massiven Bombenkrieg und Invasionen in Gaza zu vernichten, ist rechtlich und moralisch nicht zu rechtfertigen (unter der Maßgabe des Rechtsstaatsprinzips, Verbrecher vor Gericht zu bringen und zu bestrafen, und des Schutzes der Zivilbevölkerung).
Aber nicht einmal die Annahme dahinter stimmt, dass die Hamas eine Zweistaatenlösung nicht akzeptieren würde und daher als Terrorgruppe, die Israel vernichten will, ausgelöscht werden muss, um Frieden zu schaffen.
Expansion über Sicherheit und Frieden
Natürlich ist es darüber hinaus absurd zu glauben, die Hamas könne den Staat Israel, eine der größten Militärmächte der Welt, nennenswert bedrohen. Andersherum gibt es nicht mal einen palästinensischen Staat, der überhaupt "bedroht" werden könnte.
Israel hat die Wahl zwischen einer Zweistaatenlösung, angeboten seit Jahrzehnten von palästinensischer wie arabischer Seite – sowie international vereinbart, vom internationalen Recht gefordert und von der Staatengemeinschaft eingeklagt. Oder dem weiteren Drehen an der Gewalt-Eskalationsspirale, mit dem Ziel, immer mehr besetzte Territorien unter israelische Kontrolle zu bringen – bis zur Einverleibung.
Angesichts der Folgen des gegenwärtigen Kurses sollte die Entscheidung leicht fallen. Aber es dominiert in Israel wie in den USA, die den Kurs ermöglichen, weiter die fatale Doktrin: Expansion hat Priorität – vor Sicherheit und Frieden für alle Menschen in der Region.