Netzgeneration mit Schulproblemen
Laut einer aktuellen Studie verbringt nahezu jeder vierte 15- und 16-jährige Schüler sechs oder mehr Stunden vor dem Computer oder Fernseher
College-Absolventen haben nur 5.000 Stunden gelesen, aber 10.000 Stunden mit Video-Spielen verbracht und 20.000 Stunden vor dem Fernseher gehockt. Mit diesem zwielichtigen Führungszeugnis schickte Marc Prensky alle nach 1980 geborenen Zeitgenossen als "Digital Natives" ins neue Jahrtausend.
Mit und nach Prensky machten sich zahllose Sorgenträger daran, die katastrophalen Auswirkungen der modernen Mediengesellschaft auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in allen Einzelheiten zu illustrieren. Doch es gab auch Gegenstimmen, die schon den Begriff "Netzgeneration" als "unzulässige, stark überzeichnete Generalisierung der Eigenschaften einzelner Subgruppen" verstanden wissen wollten.
Mittlerweile versuchen Wissenschaftler dem Umfang und der Bedeutung des Medienkonsums junger Menschen mit Hilfe großangelegter Untersuchungen auf die Spur zu kommen. Neben der Shell-Studie, der Bitkom-Studie und der der JIM-Studie oder der "EU Kids Online"-Studie hat sich nun auch die Leuphana Universität Lüneburg im Auftrag der DAK-Gesundheit mit dem umstrittenen Thema beschäftigt. Der Schwerpunkt dieser Studie, für die 5.840 Jungen und Mädchen zwischen elf und 18 Jahren an 25 Schulen befragt wurden, liegt allerdings auf der Analyse des Zusammenhangs zwischen Medienkonsum, Freizeitverhalten und Schulleistungen.
Medien kritisieren übertriebenen Medienkonsum
Nach der Veröffentlichung der Studie war ein altbekanntes Phänomen zu beobachten. Denn auch diesmal ließen es sich die Medien nicht nehmen, am eindringlichsten vor übertriebenem Medienkonsum zu warnen. Von einer "alarmierenden Studie" war da die Rede – und selbstredend von den üblen Folgen, "wenn Kids zu viel glotzen und daddeln".
Tatsächlich aber bemühen sich die Autoren des Instituts für Psychologie und des Zentrums für angewandte Gesundheitswissenschaften, nicht in die Pauschalitäten vergangener Jahre zurückzufallen. Viele Befürchtungen zu negativen Auswirkungen der Mediengesellschaft auf Kinder und Jugendliche hätten sich "als überzogen erwiesen", meinen die Forscher aus Lüneburg und stellen immerhin fest, dass die "mit Abstand liebste Freizeitbeschäftigung" quer durch alle untersuchten Altersgruppen noch immer das Treffen mit Freunden ist. Offenbar nicht nur auf Facebook, wenngleich soziale Netzwerke inzwischen einen festen Platz in der großen Lebens- und der kleinen Tagesplanung haben.
Aufforderung zu kritischer Reflexion
Der Umfang des Medienkonsums gibt gleichwohl zu denken. 23 Prozent der 15- und 16-jährigen Schüler geben an, sechs oder mehr Stunden vor dem Computer oder Fernseher zu sitzen. 40 Prozent dieser Intensivnutzer haben keine Lust in die Schule zu gehen, 20 Prozent von ihnen sind mit ihren schulischen Leistungen unzufrieden. Sie sind körperlich weniger aktiv als ihre Altersgenossen und seltener bereit, in oder nach der Schule an organisierten Freizeitveranstaltungen teilzunehmen.
Die Autoren erkennen darin einen "bedeutsamen Zusammenhang" zwischen Medienkonsum und Schulverhalten. Trotzdem scheint sich Cornelius Erbe von der DAK-Gesundheit nicht ganz sicher zu sein, wie Ursache und Wirkung genau verteilt sind:
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass übermäßiger Medienkonsum häufiger zu Schulproblemen führen kann. Aber auch die umgekehrte Wirkung ist möglich: Wer Schwierigkeiten in der Schule hat, versucht sich möglicherweise mit einem hohen Medienkonsum abzulenken.
Cornelius Erbe (DAK-Gesundheit)
Warum und womit Kinder und Jugendliche innerhalb oder außerhalb der Schule Schwierigkeiten und Probleme haben, weiß die Studie nicht. Daten aus diesem Bereich wären möglicherweise sehr viel interessanter gewesen als die recht naheliegende Feststellung, dass der Anteil der körperlich inaktiven Jungen in der Gruppe der Intensivnutzer bei 40 Prozent liegt. Doch der Auftraggeber war schließlich eine gesetzliche Krankenkasse, die einem bestimmten Erkenntnisinteresse folgt.
Immerhin deuten gewichtige Indizien darauf hin, dass soziale Faktoren, wie so oft im Einzugsgebiet der Bildungspolitik, eine zentrale Rolle spielen. Schüler von Haupt-, Real- und Regionalen Schulen sitzen laut Studie öfter am Bildschirm als Gymnasiasten. Und im Vergleich zu ihnen schauen mehr als doppelt so viele Haupt- und Realschüler täglich mindestens drei Stunden Fernsehen.
Medien und Kompetenz
Die Autoren empfehlen abschließend einen offenen Dialog zwischen Kindern, Schülern und Lehrern, denn gerade die Schule könne in der "Prävention von Risikoverhalten eine besondere Rolle" einnehmen. Das ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Aus welchem Grund Eltern und Lehrer, unter besonderer Berücksichtigung des Ist-Zustandes ihrer Medienkompetenz, dann nicht intensiver in diese Untersuchung einbezogen wurden, bleibt unklar. Schließlich handelt es sich bei ihnen noch vorwiegend um das Pendant der Netzgeneration, die der eingangs erwähnte Marc Prensky mit dem Etikett "Digital Immigrants" beklebte.
Moshe Rappoport von IBM Research diagnostizierte schon 2008 einen Erlebnisgraben zwischen den Generationen, zu dessen Überbrückung die Lüneburger Studie dann doch nur sehr bedingte Anhaltspunkte liefert.
Die Kluft zwischen den vor 1970 und nach 1980 Geborenen hinsichtlich der IT- und Computernutzung ist enorm. Erstere werden Zeit ihres Lebens digitale Immigranten bleiben. Die meisten Jugendlichen haben bis zu ihrem 20. Lebensjahr tausende Computerspielstunden hinter sich und eignen sich dadurch Fähigkeiten und Denkmuster an, die der älteren Generation völlig fremd sind.
Moshe Rappoport im September 2008
Der Beweis, dass die "Digital Immigrants" in dieser Hinsicht unterschätzt werden und also nur in der Theorie existieren, steht noch aus.