Nato ignoriert Lehren aus dem Kalten Krieg

Die Nato setzt wieder voll auf Abschreckung. Dialog mit Russland findet nicht mehr statt. Dabei hat gerade der Kalte Krieg gezeigt, wie gefährlich dieser Weg ist. (Teil 2 und Schluss)
Im ersten Teil stand die kollektive Angst vor Krieg im Mittelpunkt – und die auffällige Sprachlosigkeit der Gesellschaft angesichts dieser Bedrohung.
Nun folgt der Blick auf die politische Reaktion: massive Aufrüstung, sicherheitspolitischer Umbau, Rückgriff auf Strategien des Kalten Krieges – und eine bedenkliche Geschichtsvergessenheit.
Das Rennen: "Russland wird es verlieren"
Für die beschlossene Aufrüstung und Abschreckung gibt eine Erklärung des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk den Takt vor:
Von heute an wird sich Europa klüger und schneller bewaffnen als Russland. Europa muss auf dieses Rennen vorbereitet sein, und Russland wird es verlieren wie die Sowjetunion vor 40 Jahren. Von heute an wird sich Europa klüger und schneller bewaffnen als Russland.
Das Wettrüsten 2.0 ist eingeläutet. Der Kalte Krieg als Lehrmeister des Siegens.
Neben einem Ausgabenplan für Aufrüstung, der fast vollständig von Vorgaben sparsamen Haushaltens befreit ist, fordern gewichtige Stimmen explizit den Umbau verschiedener Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Diese sollen nicht mehr den Anforderungen des Friedens dienen, sondern des Krieges.
"Auf Kriegswirtschaft umstellen"
Entsprechend betont der EVP-Chef Manfred Weber:
Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen.
Gleiches gilt auch für das Gesundheitssystem. In Köln sollen beispielsweise unterirdische Intensivstationen eingerichtet werden, wobei die Finanzierung noch offen ist.
Deutschlandweit geht man hierfür von einer notwendigen Investition von 420 Millionen Euro aus.
Der Plan mag vielleicht auf den ersten Blick Sinn machen, aber es ist mehr als erstaunlich, dass offenbar die Finanzierung des Gesundheitssystems für den Kriegsfall eine höhere Priorität eingeräumt zu werden scheint als für den Alltag im Frieden.
Denn bekanntlich ist das deutsche Gesundheitssystem in einem desaströsen Zustand. Aber die neuen Prioritäten scheinen klar.
Der Journalist Janan Ganseh fordert daher entschieden in der Financial Times:
Europa muss seinen Wohlfahrtsstaat beschneiden, um einen Kriegsführungsstaat aufzubauen. Ohne Kürzungen bei den Sozialausgaben kann der Kontinent nicht verteidigt werden.
Kein Blick zurück
Heute vom neuen Kalten Krieg zu sprechen, ist inzwischen so verbreitet, dass es fast zu einem Allgemeinplatz verkommen ist. Ebenso wie die Warnung von George Santayana "Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen."
Es ist offenkundig, dass sich der Kalte Krieg wiederholt, aber es ist mehr als besorgniserregend, dass kein Blick zurückgeworfen wird, was die Fehler im Kalten Krieg waren und was wir aus der Geschichte lernen können.
Einzig der angebliche Sieg dient als Leitstern. Übersehen werden hierbei ganze Krater, die einmal mehr nicht in das simple Weltbild passen, Lehren, die einem zu einer differenzierteren Politik anleiten könnten: Denn tatsächlich hatte der Westen nach der Kuba-Krise, die die Welt an den Rand der Apokalypse geführt hat, bewusst Abstand vor der ausschließlichen Strategie der Abschreckung genommen.
Dies führte schlussendlich zur Nato-Doppelstrategie im Jahr 1979. Brigadegeneral a. D. Reiner Schwalb, von 2011 bis 2018 deutscher Militärattaché in Moskau, gibt daher in seinem Interview mit Telepolis zu Bedenken:
Diese Säule des Dialogs ist für mich genauso wichtig wie Abschreckung. Abschreckung ohne Dialog birgt die Gefahr zum kostenintensiven Schiefgehen. Leider ist es zurzeit so, dass fast alle vertrauensbildenden und rüstungskontrollpolitischen Leitplanken weggefallen sind. Bedauerlicherweise wurden sie sehr häufig von westlicher Seite beendet.
Wir müssen genau in diesem Bereich wieder miteinander arbeiten. (…) Das eine – Abschreckung – darf nicht ohne das andere – Dialog – laufen.
Eine Erkenntnis, die nicht zuletzt auf historischer Erfahrung basiert, spielt erschreckenderweise heute aber überhaupt keine Rolle.
Vom Schlimmsten ausgehen
Derzeit geht man apodiktisch davon aus, dass Russland von einem imperialen Drang beseelt ist und nach der Ukraine das nächste Land angreifen wird, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Die Einschätzung des Feindes als die Inkarnation des Bösen erinnert freilich an den Kalten Krieg. Und an die beinahige Auslöschung der Menschheit im Zuge der Kuba-Krise.
Wie der Journalist Frank Schirrmacher in seinem Buch "Ego" ausführlich beschreibt, war das Denken im Pentagon während des Kalten Krieges durch die Spieltheorie geprägt, deren Grundgedanken erschreckend aktuell klingen.
Grundsätzlich war die Annahme, der Gegner wolle einen vernichten, daher verbot sich jede Kooperation, war grundsätzlich von Handlungen des Gegners auszugehen, die grundsätzlich von dessen Zerstörungswillen geleitet waren, und das eigene Verhalten daher einzig und allein seinerseits auf die Androhung der Vernichtung fokussiert.
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Die dadurch entstehende Gefahr beschreibt Oberst a. D. Wolfgang Richter, von 2005 bis 2009 Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE, im Interview mit Telepolis:
Lassen Sie mich daran erinnern, dass die Nato nicht nur 1979 eine Doppelstrategie gewählt hat, sondern schon 1967 erkannt hatte, dass Abschreckung alleine instabil ist. Hier wirkten die Erfahrungen, die man aus der Kuba-Krise damals gezogen hat.
Abschreckung allein neigt zum Worst-Case-Denken und zur Fehlperzeption der Absichten und Aktivitäten des potentiellen Gegners. Das kann zu Überreaktionen führen und eine Eskalation auslösen. Abschreckung allein kann aus dem Ruder laufen und birgt immer auch die Gefahr der Eskalation. Diese Erkenntnis hat der Harmel-Bericht von 1967 festgehalten.
Auch die Nato scheint einer Amnesie zu unterliegen und kann oder will sich nicht an die eigenen Strategien und die Gründe für deren Änderungen erinnern.
1983, das verdrängte Jahr
Nicht nur die Kuba-Krise veranschaulicht, wie nahe die Menschheit an der eigenen Auslöschung vorbeigeschrammt ist, weil einzig auf Abschreckung gesetzt und die Wahrnehmung des Feindes als das absolute Böse nicht ansatzweise hinterfragt wurde. (Schon gar nicht fand der Gedanke Berücksichtigung, dass der Feind seinerseits sein eigenes Verhalten als Reaktion ansah).
Im Jahr 1983 war aufgrund verschiedener aktueller Ereignisse die Kommunikation zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges stark eingeschränkt und belastet.
Am 26. September war die Welt dann nur wenige Minuten von der nuklearen Zerstörung entfernt. Sowjetische Satelliten zeigten, dass die USA mehrere Atomraketen in Richtung der UdSSR abgeschossen hatten.
Jeder Mensch auf diesem Planeten kann nur von Glück sprechen, dass am entscheidenden Ort im entscheidenden Augenblick, der über Leben und Tod entschied, ein Mensch saß, der nicht komplett vom Feindbild der USA durchtränkt war, die aus sowjetischer Sicht die Inkarnation des Bösen waren.
Mit kühlem Kopf erkannte Stanislaw Petrow, dass es sich um einen Fehlalarm handeln musste. Tatsächlich war der Alarm – wie sich später herausstellte – von Sonnenreflexionen über der amerikanischen Küste ausgelöst worden. (Ein schockierendes Beispiel, dass das Überleben der Menschheit von extrem selten auftretenden Zufälligkeiten bedroht sein kann, wenn die Eskalation entsprechend hochgeschraubt ist).
Im November 1983 hielt die Nato eine Kommando-Übung mit dem Namen "Able Archer" ab. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erhöhte die Nato als Teil der Übung die Alarmbereitschaft auf "Defcon 2". Das war sogar höher als während der Kuba-Krise.
Auch wenn die Übung eine Simulation war, löste sie Panik in Moskau aus. Was die Teilnehmer während der Übung nicht ahnten: Die Sowjetunion war – gleichsam spiegelbildlich zum Westen – davon überzeugt, dass die Nato einzig vom Willen getrieben waren, den Ostblock zu vernichten.
Daher war es aus sowjetischer Sicht logisch, dass die Übung nur ein Cover für einen realen Angriff sein konnte. Entsprechend wurden die Armeen im Ostblock in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Auch wenn heute unter Forschern umstritten ist, wie nahe genau die Welt während dieser Übung zum nuklearen Armageddon gekommen ist, sprach eine interne US-Untersuchung 1990 von "Haaresbreite".
2025, das aktuelle Jahr
Es ist vielleicht kein Zufall, dass heute kaum einem Menschen "Able Archer" und Stanislaw Petrow ein Begriff sind. 42 Jahre nachdem die Menschheit nur Minuten von dem Untergang entfernt war und zum Großteil auch heute noch keine Spur einer Ahnung von diesem lebensentscheidenden Jahr hat, droht sich diese Blindheit zu wiederholen.
Es lohnt sich einen Schritt zurück zu treten, um ein wenig Klarheit angesichts des aufziehenden "Fog of War" zu gewinnen:
- Ein Großteil der Menschen hat Angst vor einem großen Krieg. Und nichts geschieht.
- 40 Prozent der Experten halten einen Weltkrieg in absehbarer Zeit für wahrscheinlich. Und nichts geschieht.
- Das Einzige, was jetzt geschieht: eine massive Aufrüstung, die selbstverständlich auf russischer Seite als Bedrohung wahrgenommen wird. Die Spirale des Wettrüstens ist freigegeben.
Wie kann es angesichts der drohenden Gefahr, die so viele Menschen empfinden und die Experten bestätigen, zu keinem Aufschrei kommen?
Wie kann es sein, dass wir sogar die Fehler des Kalten Krieges mit solcher Selbstgewissheit wiederholen und uns allen Ernstes einreden, sie seien alternativlos?
Und zu allem Überfluss auch noch die letzten Reste des Wohlfahrtsstaates vernichten und verstärkt Menschen in die Armut schicken.
Wie kann das sein? Sind wir derart lernunfähig?