Neue Deutsche Coronawelle

Helfen die alten Strategien?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Tagtäglich werden wir mit neuen Positivtest-Rekordzahlen bombardiert, aber die Kennziffern, die über das tatsächliche Krankheitsgeschehen Auskunft geben, stehen immer noch in der zweiten Reihe. Zu Unrecht - denn auch hier ist eine enorme Dynamik zu beobachten: Die aktuelle Verdopplungszeit bei den Covid-19-Intensivpatienten beträgt derzeit zehn Tage.

Deutschlandweit übernimmt DIVI die Datenkoordination der Intensivbetten-Belegung, und deren wissenschaftlicher Leiter ist nun mit brisanten Informationen an die Öffentlichkeit getreten: Kliniken melden vorschriftswidrig und offensichtlich in größerem Stil freie Intensivplätze, die real gar nicht zu Verfügung stehen.

Die derzeit noch undramatischen Daten (7.970 freie Intensivplätze plus 12.794 freie Notfallreserven) entsprechen demnach nicht der tatsächlichen Situation. "Wir wiegen uns (...) in falscher Sicherheit".

Setzt das aktuelle Maßnahmenpaket die richtigen Schwerpunkte?

Ob das neueste Maßnahmenpaket der Regierungschefs angesichts solcher Herausforderungen die richtigen Schwerpunkte setzt, muss zumindest bezweifelt werden.

Die Bereiche mit dem höchsten Gesundheitsrisiko - Altenpflegeheime und Krankenhäuser - finden bei den 16 vereinbarten Punkten nur in einem einzigen, etwas längeren Punkt Beachtung. Zudem kommt es gerade in diesen Einrichtungen zu einem erheblichen Anteil der schwer verlaufenden Neuinfektionen.

Weiterhin gibt es keinerlei Bestrebungen, ein Werkzeug zur systematischen Erfassung des Corona-Infektionsgeschehens zu installieren. Alle politischen Entscheidungen beruhen auf Daten, die in ihrem eigentlichen Zweck nicht für die epidemiologische Auswertung erhoben werden - und deshalb auch nicht vernünftig auswertbar sind. Wie soll man z. B. die Entwicklung der Positivtest-Zahlen einordnen, wenn immer wieder die Teststrategie geändert wird?

Verantwortung der Politik liegt bei der Versorgungs-Infrastruktur

Jede Planung ist davon abhängig, ob mit einem längerfristig wachsenden Infektionsgeschehen gerechnet werden muss. Wenn ja, wäre die Politik vielleicht gut beraten, die Verantwortung für ein risiko- und verantwortungsbewusstes Kontaktverhalten weitgehend an die Bürger zurückzugeben, um sich mit voller Kraft auf die genannten Baustellen zu konzentrieren: Allem voran das Sicherstellen der Krankenhausversorgung und den Schutz der Alten- und Pflegeheime.

Ein staatlicher Rückzug aus der CoV-2-bedingten Sozialkontakte-Kontrolle birgt ein hohes Risiko, aber das Phänomen ist doch bekannt: Sobald sich Menschen wie Schutzbefohlene behandelt fühlen, lässt die Eigenverantwortung nach. Eine erfolgreiche Corona-Strategie ist im Kern immer darauf angewiesen, dass sie von möglichst vielen Menschen mitgetragen wird. Warum bringen die Abriegelungen und Ausgangssperren in Frankreich und Spanien kaum sichtbaren Erfolg?

Covid-19 hat sein Potenzial im Frühjahr angedeutet

Welche Kraft SARS-CoV-2 ganz real entfalten kann, ist im März/April dieses Jahres aufgeblitzt, als die Übersterblichkeit in 23 europäischen Ländern die statistischen Erwartungen für kurze Zeit um 35.000 Todesfälle übertraf. Wie dem Diagramm zu entnehmen ist, lässt diese Episode die Peaks der schweren Grippewellen 2016/17 und 2017/18 geradezu harmlos erscheinen.

Quelle: Euromomo (bearbeitet)

Umfragen zeigen: Ein Großteil der Menschen ist der Auffassung, dass derzeit eine sehr ernsthafte Risikosituation besteht. Deshalb kann vermutet werden, dass sich durch risikoangepasstes Verhalten der Schutz besonders gefährdeter Menschen verbessert.

Eine saisonale Covid-19-Welle?

Ob das rasante Fallzahlenwachstum jedoch auf die Schnelle unterbrochen werden kann, ist eine ganz andere Frage. Sie hängt damit zusammen, ob SARS-CoV-2 saisonalen Regeln folgt, ähnlich der Grippeviren. Es sieht nicht nach Zufall aus, wenn die Covid-19-bedingte Übersterblichkeit in verschiedenen europäischen Ländern genau dann endet, wenn die warme Jahreszeit einsetzt.

Ein klimatisch gesteuertes Virus jetzt, in seiner Lieblingsjahreszeit, ohne Impfung zu stoppen, erscheint wie ein Kampf gegen Naturgesetzmäßigkeiten. Man sollte diesen Kampf trotzdem aufnehmen - gerade wenn man die Regeln besser kennt.

SARS-CoV-2-Ausbreitung wird durch winterliche Bedingungen gefördert

Auch wenn die Corona-spezifische Studienlage noch nicht eindeutig ist: Während der Heizperiode ist unser Immunsystem durch trockene Raumluft und niedrige Vitamin-D-Levels geschwächt.

Dass sich die CoV-2-Ausbreitung in kühler, trockener Luft beschleunigt, ist wissenschaftlich beschrieben und hat sich über die Ausbrüche bei Tönnies und jüngst im Schlachtbetrieb Blömer-Fleisch bestätigt. In solchen Zerlegefabriken wird die Raumtemperatur auf etwa 12 Grad Celsius heruntergekühlt, und laut einer US-Studie liegt die optimale CoV-2-Infektionstemperatur sogar bei etwa null Grad.

Sterbezahlen gingen europaweit in der ersten Aprilhälfte zurück

Um die Virus-Saisonalität zu beschreiben, bedarf es jedoch eines längeren Beobachtungszeitraums. 2020 hatte SARS-CoV-2 noch gar nicht die Gelegenheit, einen komplette Jahreszeitenzyklus zu durchlaufen. Von Einzelfällen abgesehen, kam das Infektionsgeschehen in Deutschland erst Anfang März richtig in Gang, um dann im diesjährig sehr warmen und niederschlagsarmen April wieder deutlich abzuklingen.

Unsere Nachbarländer zeichnen ein ähnliches Bild: Bei den Corona-Sterbezahlen, die sich für einen Vergleich am besten eignen, vermeldeten alle europäischen Staaten nahezu synchron ein Rückgang in der ersten Aprilhälfte.

Coronawinter in Australien und Südafrika

Falls kühlere Jahreszeiten die SARS-CoV-2-Ausbreitung triggern, müssten Europa-ähnliche Klimazonen der Südhalbkugel die stärkste Infektionsaktivität während der dortigen Wintermonate (Juni bis August) aufweisen. Als Vergleichsregionen kommen am ehesten Südafrika und Australien in Frage: Beide Länder haben große Metropolregionen, in denen sich während der kühleren Jahreszeit das Leben eher nach drinnen verlagert.

Bild: WHO

Das Diagramm zeigt: Mit der klimatischen Abkühlung startet sowohl in Südafrika als auch in Australien eine 14-wöchige Positivtest-Welle: ein etwa 8-wöchiger Anstieg, gefolgt von einem etwa 6-wöchigen Abklingen.

Vielleicht haben wir mit einer ähnlichen Winterwelle - langsamer Anstieg, schnelles Abklingen - zu rechnen. Die Schlechtwetter-Phase dauert in Deutschland jedoch leider etwas länger als in Australien.

Infektionsrückgang - saisonale Effekte und/oder Eindämmungsmaßnahmen?

Cov-2 ist nicht zwingend auf kühleres Klima angewiesen. Wenn Menschen, wie in Brasilien und Indien, dicht gedrängt leben, findet virale Ausbreitung auch in Tropenstaaten statt. Dennoch: Für das europäische Infektionsgeschehen ist eine saisonale Komponente mehr als augenfällig. Bis heute ist nicht wissenschaftlich untersucht, welche Ursachen für unser Corona-Sommerloch am entscheidendsten waren: Eindämmungsmaßnahmen, eigenverantwortliche Verhaltensänderungen oder klimatische Einflüsse? Epidemiologische Studien zur Wirksamkeit der deutschen Maßnahmenpolitik hätten sicher ein sehr aufwendiges Studiendesign erfordert. Es ist dennoch unverständlich, warum dieses wichtige Forschungsfeld bislang weitgehend brach liegt.

Der Blick ins DIVI-Intensivbetten-Register deutet einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Eindämmungsmaßnahmen und Infektionsrückgang an. (Die DIVI-Kurve ist einsehbar unter dem Menüpunkt "Zeitreihen".) Im folgendem Diagramm sind die DIVI-Zahlen um 16 Tage auf den durchschnittlichen Ansteckungstermin der Covid-19-Intensivpatienten zurückdatiert. Wenige Tage nach den Kontaktverboten ging die Kurve der Ansteckungen mit sehr schweren Krankheitsverläufen deutlich zurück.

Der chinesische Weg

Was gegen CoV-2 erwiesenermaßen wirkt, sind drakonische Maßnahmen à la China. Im Corona-Ursprungsland wurden Millionen Menschen monatelang unter Hausarrest gestellt. Fenster wurden zugeschraubt, Wohnungstüren durften nur geöffnet werden, um das davor platzierte Essen aufzunehmen.

Mittlerweile ist China nahezu Corona-frei, und das Leben wieder "normal". Der Preis, der bleibt, ist extreme Abschottung nach außen sowie ein totalitäres Überwachungsregime per Pflicht-App. In einem Deutschland, wo manche schon die Maskenpflicht für öffentliche Verkehrsmitteln als unerträgliche Zumutung einer Merkel-Diktatur empfinden, erscheint der chinesische Weg undenkbar.

Aber auch unsere Entscheider waren und sind in ihrer Strategie stark auf kontaktbeschränkende Sanktionen fokussiert: Neben der vom Infektionsschutzgesetz vorgesehenen Maßnahme "Absonderung" (Isolierung und Quarantäne) wurden Eingriffe ins soziale Leben bis hinein in den Privatbereich verfügt. Diese Maßnahmen sind im Vergleich mit China sehr moderat. Nach Maßstäben der Vor-Coronazeit erscheinen sie jedoch ebenfalls undenkbar.

Der deutsche Weg

Und so eiern wir seit Monaten herum, zwischen hammer and dance; suchen den Mittelweg zwischen Freiheit und Sicherheit. Unmut wächst, wobei das Kritisieren einfacher ist, als Entscheidungen treffen zu müssen, die zwangsläufig etwas Falsches in sich tragen.

Folgendes Szenario ist für die nächsten Wochen denkbar:

  • Verbote, die beim Gastro- und Kulturbereich ansetzen, erweisen sich als ineffektiv, weil in diesen Sektoren bereits einschneidende und gemeinsam mit den Behörden erarbeitete Lösungen erfolgreich installiert worden waren.
  • Die Mehrheit der Bevölkerung ist nach einem etwas entspannteren Sommer wieder stärker sensibilisiert. Vorsichtigeres Verhalten wird dafür sorgen, dass der exponentielle Anstieg bei den Hospitalisierten- und Intensivpatienten an exponentieller Dynamik verliert und in einen eher linearen Anstieg übergeht.
  • Die deutsche Heiz- und Indoor-Periode hat gerade erst angefangen, und da SARS-CoV-2 in unseren Breiten als saisonales Virus funktioniert, wird die Zahl der täglichen Positivtests zwar nicht auf Dauer mit exponentieller Dynamik wachsen, sich aber dennoch bis ins neue Jahr hinein ausweiten.

Wie auch immer sich die Coronasaison weiterentwickelt - es wäre ein verheerendes Armutszeugnis, wenn wir auf Dauer keinen Weg finden, ohne massive Grundrechteeinschränkungen mit diesem neuen gesundheitlichen Lebensrisiko umzugehen. Die Risiken sind anders gelagert, aber auch Krebs, Herzinfarkte, Grippe, Alzheimer oder schwere Unfälle konnten wir bis heute nicht aus der Welt schaffen, obwohl sie tausende Todesopfer fordern. Dennoch leben wir damit, ohne uns davon tagtäglich tyrannisieren zu lassen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.