Neue Germanen, alte Germanen
Ryke Geerd Hamer und seine Germanische Neue Medizin
Wer gehofft hatte, dass das Abflauen der Milleniumsangst nach dem Jahrtausendwechsel dem krudesten esoterischen Unsinn die Spitze abbrechen würde, hat sich getäuscht. Die Karriere eines wirren Alternativmediziners und Antisemiten belegt das eindrucksvoll.
Am 17.5.05 war in der Universitätsstadt Tübingen ein gespenstischer Aufzug zu beobachten: Etwa 1000 aus ganz Europa angereiste Demonstranten forderten "Freiheit für Ryke Geerd Hamer" und gesellschaftliche Akzeptanz für seine "Germanische Neue Medizin".
Dr. Ryke Geerd Hamer war einmal Facharzt für Innere Medizin an der Universitätsklinik Tübingen. 1978 wurde sein Sohn Dirk angeschossen und starb nach drei Monaten an den Folgen; kurze Zeit später erkrankte Hamer an Hodenkrebs. In diese Zeit fiel die urprüngliche Entwicklung seiner Theorien nicht nur zu Krebs, sondern zu allen anderen Arten von Krankheiten. Laut Hamer gibt es diese Krankheiten gar nicht wirklich, sondern sie stellen im Wesentlichen eine körperliche Reaktion auf psychische Schockerfahrungen dar.
Krankheiten als "Sonderprogramme"
Hamer hat eine eigene Terminologie entwickelt, nach der die betreffenden Schockerfahrungen ein "Dirk-Hamer-Syndrom" auslösen und Krankheiten nur noch als "Sonderprogramme" bezeichnet werden: Seiner Ansicht nach können diese "Sonderprogramme" durch die Verfahren der Schulmedizin überhaupt nicht positiv beeinflusst werden, die beste Therapie besteht in "angstabbauenden" Gesprächen, der gesprächstherapeutischen Behandlung der Schockerfahrung und der Ablehnung von Medikamenten und Verfahren der Schulmedizin.
Die praktische Umsetzung dieser Überzeugungen kostete Hamer bereits 1986 die Approbation als Arzt. Weil er dennoch weiterhin praktizierte, wurde er unter anderem zu einer 19-monatigen Haftstrafe verurteilt, von der er 12 Monate absaß. Danach ging er nach Spanien. 1995 geriet er in die Schlagzeilen, als ihm die Eltern der damals sechsjährigen Olivia Pilhar das Leben ihrer Tochter anvertrauten.
Hamer riet auch dann noch von einer wirklichen Behandlung des Kindes ab, als das Kind dem Tod nah war und starke Schmerzen hatte. Erst eine auf Druck der Behörden durchgeführte Notoperation konnte das Leben von Olivia Pilhar retten. Andere Fälle gingen nicht so glücklich aus. In mehreren europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Schweiz) starben Patienten, nachdem sie sich unter dem Eindruck der Hamerschen Thesen geweigert hatten, ihre Krebserkrankungen behandeln zu lassen.
Ablehnung von Schmerzmitteln bis zum Schluss
Liest man die Berichte durch, so fällt auf, dass die Patienten sogar Schmerzmittel bis zum Schluss ablehnten, offenbar in der Überzeugung, die Medikamente schadeten dem von Hamer propagierten Selbstheilungsprozess ihrer Körper. 2003 wurde Hamer in Spanien aufgrund eines von französischen Behörden erwirkten europäischen Haftbefehls in Spanien festgenommen und nach Frankreich ausgeliefert, dort sitzt er derzeit in Haft. In Österreich ist gegen ihn ein Haftbefehl wegen Totschlags anhängig. Auch in Deutschland liegt ein weiterer Haftbefehl gegen ihn vor.
Wenn man sich die Websites anschaut, auf denen Hamer und seine Methoden gefeiert werden, fällt sofort das krude Gemisch auf, das eine nahezu religiöse Erweckungs- und Erlösungshoffnung hier mit einem selbstentwickelten, pseudowissenschaftlichen Jargon eingegangen ist.
"Messias" in der Tradition Galileis und Darwins
Mit Selbstlob spart Hamer nicht, er sieht sich in der Tradition Galileis und Darwins:
Die Wichtigkeit der Entdeckung der NEUEN MEDIZIN ist, ohne zu übertreiben, mit der Wichtigkeit der Entdeckung des Sonnensystems oder der Entwicklung der Arten zu vergleichen.
Hamers Anhänger verehren ihn als einen Messias, der eine überwältigende Revolution nicht nur in der Medizin auslösen werde. Seine Ideen seien jederzeit naturwissenschaftlich belegbar, sagen sie. Aber nicht nur Schulmediziner halten Hamers Ansätze für reinen Unfug auch Alternativmediziner raten von ihnen ab. Die Behauptungen Hamers seien durch nichts belegt, ihnen zu glauben, sei gefährlich.
"Germanische Neue Medizin"
Um sich von der Konkurrenz abzusetzen, hat Hamer seit 2003 ein neues Leitmotiv in sein Ideologiegebäude eingefügt: Den Judenhass.In krassestem antisemitischem Verschwörungswahn spricht er seitdem von der "jüdischen Schulmedizin", die den Nichtjuden wider besseres Wissen aufgezwungen werde; er aber als ein Abkömmling des Volkes der Dichter und Denker beabsichtige mit seiner Methode, die er aktuell als "Germanische Neue Medizin" bezeichnet, der Welt ein Göttergeschenk zu machen.
Wie kann so ein Geschwurbel Erfolg haben? Dass Ärzte und Wissenschaftler mitunter die hartnäckigsten Obskurantisten überhaupt sind, ist ja bekannt, auch dass scheinbar aufgeklärte Zeitgenossen keine Ahnung von den Stärken und Schwächen der echten Naturwissenschaft haben und vollkommen kritiklos pseudowissenschaftlichen Unsinn akzeptieren, kommt öfter vor, als man denken sollte. Aber die Durchschlagskraft des Wahns überrascht dann doch. Wie kann sie erklärt werden?
"Medizynismus"
Hamer hat einfache Erklärungen für ein Krankheitsgeschehen zu bieten, das von der Wissenschaft bis jetzt weder vollständig erklärt noch völlig beherrscht werden kann. Warum sich mit Onkologie beschäftigen, wenn die Wahrheit so simpel ist? Es wird schon etwas Wahres an Hamers Thesen sein, er war doch einmal selber Arzt! Der Umbau unseres Gesundheitssystems zu einem schlecht gemanagten Reparaturbetrieb mit kärglicher Basisversorgung für Kassenpatienten und Sonderleistungen für Besserverdiener spielt sicher eine Rolle: Für die emotionale Seite der Erkrankung bleibt im Normalbetrieb immer weniger Zeit.
Ohnehin hat die wissenschaftlich orientierte Medizin die Tendenz, den Körper nicht nur als Objekt zu studieren, sondern ihn auch so zu behandeln. Der aus Zeitdruck, Empathieunfähigkeit und notwendigen ärztlichen Abwehrmechanismen resultierende "Medizynismus" stößt viele ab, die gerne wenigstens auch noch ihre Ängste im Umgang mit Krankheit und Tod ernst genommen sähen. Weil Krebs ein so hohes Angstpotenzial mit sich bringt, kann eigentlich jeder mit Erfolg rechnen, der hier ein offenes Ohr anbietet - in Kombination mit großzügigen Heils- und Heilungsversprechen kann dieses Angebot unwiderstehlich sein.
Wenn dann auch noch eine praktische Verschwörungstheorie mit zum Paket gehört, die einem die eigene Verwirrung als Erleuchtung und die Ablehnung der anderen als logische Konsequenz ihrer bösartigen Fortschrittsfeindlichkeit erklärt, ist vieles möglich - sogar die Rekrutierung tausender Anhänger durch komplett sinnbefreites Gerede. Das Germanische an der Germanischen Neuen Medizin scheint jedenfalls vor allem aus Wahn, Beratungsresistenz und Antisemitismus zu bestehen. Hört sich an wie die alte Medizin der Germanen.