Neue Herrscher im Königreich des Todes
Nach der Einnahme des syrischen Palmyras durch den "Islamischen Staat" bangt die Welt um den Verlust unschätzbarer Kulturgüter. Als "Königreich des Todes" galt Syrern die Stadt schon lange vor der Einnahme durch den IS
"Das Leben in Tadmor ist, als würdest du durch ein Minenfeld laufen. Der Tod kann jederzeit kommen, durch Folter, die Brutalität der Wärter, Krankheit oder Exekution." Die Zeilen, die ein unbekannter Mann an die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schmuggelte, sind eines der wenige Zeugnisse von der Schreckensherrschaft in Palmyra (arabisch: Tadmor). Vor einer Woche hat der selbsternannte Islamische Staat die syrische Wüstenstadt eingenommen. Doch die Schilderungen sind bereits 16 Jahre alt. Sie beschreiben nicht das Leben unter den Dschihadisten, sondern den Alltag im Foltergefängnis der Stadt.
Seit der Einnahme Palmyras sorgt sich die Welt um den Verlust eines Weltkulturerbes: "Die Kämpfe gefährden eine der wichtigsten Kulturgüter des Nahen Ostens", warnte die UNESCO-Vorsitzende Irina Bokova am Mittwoch. Auf YouTube feierte der IS seinen Sieg mit Bildern vom antiken römischen Amphitheater. Auf dem 2000 Jahre alten Baaltempel weht seit dieser Woche die Flagge der Dschihadisten. Doch, dass der IS auch das örtlichen Gefängnisses eingenommen hat, dürfte mindestens ebenso bedeutend sein. Für die Insassen, die auf Freiheit hoffen. Für die Bewohnen von Tadmor, die befürchten müssen, nun anstatt vom Regime durch den IS gefoltert zu werden. Und für den IS, der die Einnahme von Syriens berüchtigsten Gefängnis als riesigen Propagandaerfolg ausschlachtet.
Syriens Königreich der Stille
Noch unter französischer Besatzung als Kaserne gebaut, zeigt allein schon die Lage inmitten der syrischen Wüste, warum Syrer das Gefängnis "Königreich der Stille" nennen. "Wer hier hinkommt, kommt nie mehr zurück - selbst wenn er freigelassen wird", beschreiben Bewohner Tadmors das Gefängnis, zu dem weder Angehörige, noch das syrische Justizministerium Zugang hatten. Seit den 1970ern schickte das syrische Militär politische Häftlinge hierhin. Weil sie in kommunistischen, nationalistischen, islamistischen oder kurdischen Gruppen aktiv waren. Oder einfach, weil sie zufälliges Opfer eines Staates wurden, in dem Willkür und Folter schon lange vor dem Krieg selbstverständlicher Teil des Strafvollzuges war.
"Tadmor scheint dazu entworfen worden zu sein, um seinen Insassen das Maximum an Leid, Erniedrigung und Angst zufügen zu können", urteilte Amnesty International in einem der wenigen Berichte, die einen Einblick in das Leben von Tadmor gaben.
Häftlinge berichten dort, wie jeder von ihnen "zur Begrüßung" in einen Autoreifen gezwängt und bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen wurde. Auf dem "deutschen Stuhl" (al-Kursi al-Almani) wurde der Körper der Menschen gestreckt, bis die Knochen brachen oder sie durch Atemnot erstickten. Zehntausende Syrer saßen hier ein, berichtete Amnesty schon 2001. Fast jeder Syrer hat einen Freund oder Angehörigen, der hinter den Mauern spurlos verschwand.
Vor allem ein Tag im Juni 1980 machte Tadmor über alle anderen Foltergefängnisse Syriens hinaus zum Symbol der säkularen Schreckensherrschaft: Als Anhänger der Muslimbruderschaft mit einem Anschlagsversuch auf den damaligen Präsidenten Hafez al-Assad scheiterten, ließ dieser am Tag darauf hunderte Insassen Tadmors hinrichten. Das "Königreich des Todes und des Wahnsinns" nannte ein Häftling, der die Zeit überlebte hatte, das Gefängnis in einem Human Rights Watch Bericht von 1996. Für das Regime wurde Tadmor zum Symbol des gnadenlosen Kampfes gegen den Islamismus.
Ein Symbol des Kampfes für und gegen den Islamismus
Ein Image, das die Islamisten des IS nun propagandistisch ausschlachten: Schon Tage vor der Einnahme Tadmors, versprach der IS auf Twitter, Häftlinge befreien zu wollen: "Der Westen und die Milizen kümmern sich nicht um sie [die Insassen], sie kläffen nur wegen der Ruinen." Wie schon in anderen Städten versucht sich der IS nun als Befreier zu inszenieren, der rücksichtslos nur gegen Vertreter des Regimes vorgehe. 150 Menschen seien in den ersten Tagen hingerichtet worden, berichten Aktivisten. Von "Assad-Anhängern", spricht der IS.
Schon am Tag nach dem Einmarsch kursierten auf Twitter-Accounts des IS die ersten Bilder aus dem Gefängnis. Auf YouTube-Videos sah man nicht nur Bilder antiker Ruinen, sondern auch die geplünderten Waffenkammern des Gefängnisses. Auf Twitter kursiert die Meldung von zwei Dutzend freigelassenen Libanesen. Doch handfeste Beweise für die Freilassung fehlen bisher.
Symbol der Öffnung
Es ist nicht das erste Mal, dass sich unter Tadmors Bevölkerung Verzweiflung und Hoffnung mischen: Anfang der 1990er sorgte eine Reihe von Amnestien dafür, dass die meisten Häftlinge das Gefängnis verlassen konnten. Sogar Amnesty International lobte das "Klima des Dialoges und der Diskussion, das sich unter syrischen Beamten und in der Zivilgesellschaft entwickelt" habe.
Ein Jahr nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 ließ der heutige Präsident Syriens, Bashar al-Assad, das Gefängnis schließen. Doch wie bei anderen Reformversuche, machte der Krieg in Syrien auch die Schließung des Gefängnisses hinfällig: Seit dem Jahr 2011 wurde in Tadmor wieder gefoltert, verschwanden Syrer ohne jedes Lebenszeichen.
"Wenn der Tod alltäglich ist, sich anschleicht hinter Folter, zufälligen Schläge, dem Ausstechen der Augen, gebrochenen Gliedmaßen und zerschmetterten Fingern; wenn der Tod dir ins Gesicht starrt und nur der reine Zufall ihn abhält... würdest du dich nicht über die Gnade einer Kugel freuen." Mit diesen Zeilen beschrieb ein Häftling 1999 gegenüber Amnesty International seine Todessehnsucht. Nach Jahren der Stille stammt das letzte Lebenszeichen über die Häftlinge von Tadmor von letzter Woche. "Ich sah rund 10 Busse voll mit Häftlingen an die Front fahren", berichtete ein Anwohner gegenüber dem Onlinemedium "Daily Beast". Abermals wurde Tadmor zum Ort des Wahnsinns: Nach unbestätigten Berichten wurden die letzten Insassen im Kampf gegen den IS verheizt.