Neue Risikobewertung erforderlich
Schädigungen der DNA durch niedrige Röntgendosen sind länger wirksam als hohe Strahleneinwirkungen - eine neue Erkenntnis, die sich höchstwahrscheinlich auch auf die nuklearen Strahlungsquellen übertragen lässt
Ionisierende Strahlen verursachen Brüche im Doppelstrang der DNA (double-strand breaks). Die Auswirkungen sind zu Genüge bekannt: Krebs, nicht nur Blutkrebs, und frühkindliche Missbildungen.
Nicht zufällig starben an der Leukämie die ersten Röntgenärzte und ebenso die Physik- und Chemie-Nobelpreisträgerin Marie Curie. Hohe Bestrahlungsdosen, isoliert oder kumuliert durch die wiederholte Exposition, werden als Auslöser angesehen. Kai Rottkamm und Markus Lobrich aus der Fachrichtung Biophysik der Universität des Saarlandes in Homburg haben sich gefragt: Welchen Effekt hat die niedrig dosierte Röntgenbestrahlung? Ihr Modell ist die Strahlendosis, die der Zahnarzt mit einem modernen Gerät beim Röntgen einsetzt. Ihre Ergebnisse, soeben veröffentlicht in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), zwingen dazu, dass die bisherige Annahme von der Unschädlichkeit geringer Röntgendosen revidiert werden muss.
Die Forscher haben die Zellschädigungen mit Hilfe eines neuartigen Fluoreszenzfarbstoffs bis zu 14 Tage nach der Exposition ausgezählt. Das überraschende Ergebnis: niedrig dosierte Bestrahlung erzeugt DNA-Brüche, die ungleich länger bestehen bleiben als die Schädigungen, die unter hohen Röntgendosen auftreten. Die Begründung für dieses unerwartete Verhalten ist schlüssig: Heftige Zerstörungen führen zum Zelltod, unmittelbar oder innerhalb kurzer Zeit, weil die Zellen nicht mehr lebensfähig sind. Dann gibt es noch Gewebe, das zwar geschädigt ist, vom Körper allerdings wieder repariert wird. Ganz anders nun die niedrig dosierte Strahlung: Sie verursacht DNA-Brüche, die offenbar nicht als reparaturbedürftig erkannt werden. Statt den Ort der Zerstörung gründlich zu reinigen, bleiben zahlreiche defekte Zellen am Leben und multiplizieren sich und ihre schädliche Wirkung auf den Körper.
Die Wissenschaftler hoffen, dass der von ihnen benutzte Test für systematische Untersuchungen automatisiert werden kann. Worum geht es jetzt? Statt der tolerablen Gesamtdosis wie sie im Atomgesetz für den Röntgenarbeitsplatz festgesetzt ist, muss der Schwellenwert festgemacht werden, von dem ab lang anhaltende DNA-Schädigungen induziert werden. Vorbei ist es auch mit der Großzügigkeit im Einsatz von Röntgenuntersuchungen am Kranken. "Sie kriegen nur eine kleine Dosis ab," war bisher der Spruch vieler Ärzte, weil sie der Devise folgen: Hohe Dosis macht große Schädigung, die niedrige Dosis hat hingegen wenig oder keine Auswirkungen. Kein Zweifel, die Risikobewertung muss neu definiert werden.
Die Untersuchungen aus Homburg an der Saar werden einen noch mächtigeren Stein ins Rollen bringen. Was hier für Röntgenstrahlen gefunden wurde, lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die nuklearen Strahlungsquellen übertragen. Die Diskussionen um die Leukämie in der Nachbarschaft von Atomreaktoren werden neuen Auftrieb bekommen. Die Beobachtung, wonach der Brustkrebs 3-4mal häufiger ist bei Frauen, die in jungen Jahren nicht-tödlicher radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, könnte über den Effekt der niedrigen Dosis erklärt werden. Geradezu unvollständig erscheint im Licht der neuen Erkenntnis der Bericht der Vereinten Nationen UNSCEARE-2000 über den Unfall von Tschernobyl. Danach kamen nur 30 Personen als Bediener oder Feuerwehrleute direkt zu Tode, weitere Schäden wurden nicht ausgemacht, weil sie offenbar nicht erkannt wurden.
Und schließlich gibt es jene unklaren Krankheitszustände bei Soldaten des ersten Golfkrieges. Lange Zeit als abnorme psychische Belastung abgewiegelt, sind die Fachleute inzwischen der Meinung, dass unerkannt freigesetztes Giftgas oder die Verwendung radioaktiver Sprengsätze, die zum Vernichten der Panzer eingesetzt werden, den schleichenden körperlichen Verfall auslösen.
Nur wenige biologische Vorgänge folgen der geradlinigen Dosis-Wirkungsbeziehung. Ungleich häufiger ist die S-förmige Kurve im Sinne der logistischen Funktion. Kai Rottkamm und Markus Lobrich bestätigen für ein altbekanntes Problem, das längst gelöst schien: Überleben alleine ist kein Maß für die Auswirkungen auf zellulärer Ebene.