Neue Umfrage: Sanders schließt landesweit zu Clinton auf

Der unabhängige Senator hält das Geschäftsmodell der Wall Street für Betrug - Streit um das Attribut "progressiv"

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In einer neuen Ipsos-Umfrage liegt der parteilose Senator Bernie Sanders, der bei den Präsidentschaftsvorwahlen der Demokraten antritt, mit 45 zu 48 Prozent erstmals landesweit so knapp hinter der Favoritin Hillary Clinton, dass unter Berücksichtigung der Fehlertoleranz ein Gleichstand möglich ist. Das ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil Sanders nicht dem Parteiestablishment angehört, sondern auch, weil er zu Anfang des Vorwahlkampfs noch 40 bis 50 Prozentpunkte hinter Clinton lag.

Selbst vor den ersten Caucuses in Iowa, die Clinton nur mit einem hauchdünnen und wegen mehrerer Münzwurfentscheidungen umstrittenen Vorsprung gewann, lag der 74-Jährige in einer nationalen Ipsos-Umfrage vom 31. Januar mit 38 zu 58 Prozent noch 20 Punkte hinter der Ex-Präsidentengattin. Nun gilt er als ernsthafter Rivale, dem nicht nur zugetraut wird, am Dienstag die Vorwahl in New Hampshire zu gewinnen, sondern auch in Nevada und anderen Bundesstaaten zu siegen, in denen die ehemalige Außenministerin bislang führte.

Das Sanders das schaffte, könnte auch daran liegen, dass viele Amerikaner ihr politisches Establishment so satt haben, dass Wahlkampfäußerungsanweisungen, die früher als eherne Gesetze galten, heute eher das Gegenteil bewirken - wie auf Seiten der Republikaner die Erfolge von Donald Trump und die Misserfolge von Jeb Bush zeigen. Sanders wirkt nicht nur häufig ähnlich exzentrisch frisiert wie Trump (vor allem dann, wenn ihm der Wind seine Haare über die Halbglatze weht) - er macht auch den Eindruck, dass er sich ebenso wenig an die Ratschläge von PR-Beratern hält.

Das zeigte sich zum Beispiel bei den Fernsehdebatten, wo er sich weigerte, über die E-Mail-Affäre von Hillary Clinton zu sprechen (die andere Kandidaten als Steilvorlage genutzt hätten) und meinte, es gäbe Wichtigeres, über das man stattdessen reden solle. Ob geplant oder nicht, könnte das ein Schachzug gewesen sein, der den Zuschauern vermittelte, dass hier jemand steht, dem es tatsächlich weniger um die Macht als um die Lösung von Problemen geht.

"Das Geschäftsmodell der Wall Street ist Betrug"

Ganz oben bei den Problemen steht für ihn dabei die Finanzindustrie. Bei der Debatte am Donnerstag fasste er seine Haltung zu der 2008 mit viel Steuergeld geretteten Branche, die seiner Ansicht nach völlig korrupt ist und bei vielen Amerikanern viel Leid verursacht hat, wie folgt zusammen: "Das Geschäftsmodell der Wall Street ist Betrug". Dass Clinton so ein Satz nicht über die Lippen kommt, könnte damit zusammenhängen, dass sie sehr viel Geld von dort bekommt - unter anderem für Reden, deren Veröffentlichung Sanders fordert.

Clinton bestreitet, dass dieses Geld ihre Haltungen und Entscheidungen beeinflusst - aber dabei wirkt sie auf viele Amerikaner offenbar nur bedingt glaubwürdig. Gleiches gilt für ihr "Ja" zum Einmarsch in den Irak, der sich als schwerer politischer Fehler erwies. Obwohl sie immer wieder sagt, sie würde heute nicht mehr so abstimmen, zweifeln viele Wähler daran, dass sie Interventionen und Regimewechsel in solchen Ländern heute wirklich grundlegend anders sieht als damals.

Das spiegelt sich auch in Umfragen, wo Clinton in Sachen Glaubwürdigkeit regelmäßig sehr viel schlechtere Werte bekommt als andere Präsidentschaftsbewerber. Wenn sich die vierte Staffel der Netflix-Adaption von House of Cards, deren Premiere für den 4. März angekündigt ist, bei der Figur Claire Underwood am BBC-Original und an Elizabeth McCullough Urquhart orientiert, dann könnten Clintons Imageprobleme eher zu- als abnehmen.

Sanders-Wahlplakat

Dass Sanders und nicht sie die Vorwahlkampfthemen vorgibt, zeigt sich unter anderem am Streit um das Attribut "progressiv": Sanders warf Clinton in mehreren Tweets vor, sie könne nicht "moderat" und "progressiv" gleichzeitig sein, was sich an ihrer Haltung zu internationalen Handelsabkommen, zur Todesstrafe oder zur Keystone XL-Ölpipeline zeige - worauf hin Clinton meinte, sie sei eine "Progressive", die "Sachen auf die Reihe bekommt" und nach Sanders Maßstäben könne man das Attribut auch Barack Obama nicht zubilligen.

Dass beide demokratischen Kandidaten neuerdings "progressiv" sein wollen, liegt daran, dass der Begriff "liberal", der früher die den Republikaner abgewandte Seite der Demokraten bezeichnete, durch beständigen abwertenden Gebrauch negativ konnotiert ist. Die Situation ist ist damit genau umgekehrt wie die in Deutschland, wo das Adjektiv "progressiv" einen schlechten Beigeschmack bekam, nachdem es der ehemalige Peer-Group-Flügel der Piratenpartei für sich verwendete, während "liberal" hierzulande einen eher guten Klang hat (vgl. Piraten haben ein paar Probleme weniger).

Bei den Republikanern liegt in der ersten Ipsos-Umfrage nach den Caucuses in Iowa weiter Donald Trump mit 40 Prozent klar vorne. Dass nicht er, sondern Ted Cruz diese Vorwahl gewann, konnte daran nichts ändern. Cruz kommt derzeit auf 16 Prozent, der in Iowa drittplatzierte Marco Rubio erreicht 13. Rubios Anteil könnte allerdings steigen, wenn weitere Establishment-Kandidaten wie Chris Christie, John Kasich, Carly Fiorina oder Jeb Bush ausscheiden. Der einstige Favorit, der dem Publikum bei einer Wahlkampfrede sagen musste, wann es klatschen soll, kam in Iowa auf nur etwas über 5.000 Stimmen - rechnet man den Werbeaufwand dagegen, dann kostete jede dieser Stimmen etwa 2.800 Dollar.

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