Neuer Weg im Ballett

Lucia Lacarra und Matthew Golding faszinieren auf eigenes Risiko: "In the Still of the Night" beim Ballett Dortmund. Foto: Leszek Januszewski

Tanz und Filmsequenzen, Traum und Realität: Die Weltstars Lucia Lacarra und Matthew Golding machten sich selbständig mit Aufführungen, die es zuvor so nicht gab

Mondlicht, Leidenschaft, eine surreale Geschichte - und schon ist eine ganze Welt entworfen. Am 28. November, also kommenden Sonntag, ist es wieder soweit, und das Opernhaus in Dortmund mutiert zum Hort einer ungewöhnlichen Symbiose. "In the Still of the Night" ("In der Stille der Nacht") heißt das Stück, das Matthew Golding für seine Partnerin Lucia Lacarra und für sich entwickelt hat.

Gleich zweimal - um 15 Uhr und um 19 Uhr - zeigen die beiden das jeweils 70-minütige, aufregende Spektakel. Ungewöhnlich dabei: Es treten nur diese beiden Stars live auf, kein Ensemble, keine anderen lebenden Mitspieler:innen. Aber: Von Beginn an spielt die filmische Leinwand mit.

Projizierte Filme entführen in bester Lichtspiel-Anmutung in die spanische Provinz, dorthin, wo der Mond die kurvige Berglandschaft küsst. Zu Beginn sitzt Matthew Golding, der von seiner Attraktivität her so etwas wie der Brad Pitt des Balletts ist, auf dem Kühler seines nostalgischen Cabriolets und raucht versonnen eine Zigarette. Was aber passiert im Laufe der Nacht, durch die er mit seiner großen Liebe auf dem Beifahrersitz rauscht wie in einem Traum?

Frei und stark im Film, sorgenvoll auf der Bühne

Man sieht die beiden wie frisch Verliebte agieren: Sie tanzen ausgelassen oder auch mal eng, trinken Champagner, genießen das Nachtleben in Bars und Clubs. Die schöne Brünette Lucia Lacarra trägt da einen taillierten Tellerrock und bewegt sich mit dem Flair der Roaring Sixties. Einfach supersexy und doch sehr selbstbestimmt. Matthew Golding hält sie in seinen Armen wie ein Gott der Liebe, so frei und stark und doch loyal zu ihr im Ausdruck - im Film.

Auf der Bühne ist alles anders. Da sitzt Matthew sorgenvoll auf seinem Bett, er kann nicht schlafen, der Mond scheint auf unheimliche Weise zu ihm hinein - und ein Foto, das Lucia zeigt, scheint ihn zu verfolgen.

Schließlich erscheint sie selbst, leibhaftig und doch geisterhaft: als Traumgestalt, in seiner Fantasie. Und die beiden tanzen, als könne keine Macht zwischen Himmel und Erde sie je trennen. Doch immer wieder mischen sich die Ebenen, es funkelt die filmische Leinwand mit dem silbernen, knallrunden Mond dazwischen. Bis Matthew das Bett, auf dem seine Geliebte sitzt, wie in Trance um sich schleudert.

Erinnerung an "Dirty Dancing"

Tatsächlich erzählt das Stück in collagenhafter Manier den weiteren Verlauf der Geschichte, inklusive tragischem Unfalltod der schönen Frau in den spanischen Bergen. Und doch gibt es anscheinend ein frohgemutes Erwachen. Was ist nun Traum, was Realität? Man darf ein wenig verwirrt sein.

Erinnerungen an den Film "Dirty Dancing" sind zudem erlaubt, auch musikalisch, wobei sich von Edith Piaf über The Five Satins bis hin zu Philip Glass und Max Richter ein weiter Bogen spannt. Aus einer Urlaubslaune heraus hat sich auch hier alles entwickelt. Vor allem aber bedeutet diese grandiose Show auch einen weiteren Triumph für das völlig neuartige Konzept von Ballett, das Lucia Lacarra und Matthew Golding hier präsentieren.

Normalerweise ist Ballett eine proben- wie auch bühnentechnisch höchst aufwändige Sache. Es gibt viele Kostüme, viele Tänzer:innen, oft auch noch Komparsen. So viele verschiedene Tänzer:innen auf der Bühne bringen manchmal ein etwas chaotisch wirkendes Fluidum zustande, aber wenn sie zu einheitlich sind, kann es auch langweilig werden. Es ist nicht einfach, das Ganze dann nicht als oberflächlich zu empfinden.

Am spannendsten sind meist die Pas de deux, also die Paartänze, die in Balletten wie "Dornröschen", "Schwanensee" oder "Die Kameliendame" die Tänzer:innen zur Höchstform auflaufen lassen.

Für das perfekte Gesamtkunstwerk ist meist ein riesiger Apparat aus Technik und Organisation mit schier unendlich vielen Proben vonnöten. Die Tänzer:innen spüren von all dem Aufwand um sie herum aber nicht so viel. Für sie zählt, was sie proben und aufführen, also die Choreografie.

Lucia Lacarra und Matthew Golding haben das viele Jahre so erlebt. Sie ist gebürtige Spanierin und machte über Stationen in Frankreich und in den USA eine weltumspannende Karriere. In München beim Bayerischen Staatsballett war sie ebenso die begehrte Primaballerina wie zuvor in San Francisco. Seit 2016 arbeitet sie freiberuflich, ist viel auf Galas unterwegs, aber als steter Gaststar dem Ballett Dortmund verbunden.

Hoffnungen und Utopien vergangener Tage

Als die Corona-Pandemie begann, steckte sie mitten in den Vorbereitungen ihres ersten eigenen Projekts. Gemeinsam mit ihrem auch privaten Partner Matthew Golding, einem gebürtigen Kanadier und ebenfalls erfahrenen Ballettstar, kreierte sie 2020 "Fordlandia": ein Tanzstück über die vom Autobauer Ford im amazonischen Dschungel gebaute Geisterstadt.

In elegischen Paartänzen mit akrobatischer Raffinesse beschworen sie darin die Hoffnungen und Utopien vergangener Tage. Videoprojektionen vom Meer und viel Theaternebel auf der Bühne verbanden sich zu einem veränderlichen Bühnenbild in violett-orangefarbenen Tönen.

Mit ihrem zweiten Stück "In the Still of the Night", das in Madrid uraufgeführt wurde und in Dortmund seine deutsche Erstaufführung erlebte, haben Lacarra und Golding allerdings noch eins draufgesetzt und weit mehr als nur Tanz vor einer filmischen Kulisse erschaffen.

Der Live-Tanz auf der Bühne und die filmischen Reminiszenzen sind jetzt eng verzahnt. Sie lassen das Publikum die Geschichte wie einen Kinofilm mit Bühnenzulage erleben. Als zeige die Bühne ein lebendiges Filmgeschehen.

Das Ganze wirkt wie in einem Traum. So etwas hat es bisher im Ballett noch nicht gegeben. Wirklich: Es fühlt sich an, als würde man selbst träumen, wenn Matthew Golding seine zarte Partnerin zu exotischen Posen empor hebt, sie dann wie schwebend dort verharrt, um schließlich mit unendlicher Leichtigkeit wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen.

Die besondere Aura der Ballerina Lucia Lacarra ist schließlich nicht umsonst weltbekannt. Ihr faszinierender Tanz scheint tief von innen zu kommen, ist keinesfalls eine aufgesetzte Akrobatik.

Der Sprung in die Selbstständigkeit

Die sprichwörtliche Magie vom Ballett findet in Lucia Lacarra nach Meinung vieler Fans und Kenner:innen die weltbeste Personifikation. Ihre Kunst entspricht denn auch ihrem wirklich starken, stets toleranten, aber immer auch entschiedenen Charakter.

Mit dem Sprung in die Selbstständigkeit 2016 - der nicht ganz freiwillig erfolgte, sondern als Folge eines Zwists mit dem damals neuen Münchner Ballettdirektor Igor Zelensky - wagte Lucia Lacarra einen Schritt, der sie viel weiter gehen ließ als damals abzusehen war.

Viele berühmte Tänzer:innen lassen sich nach der Karriere als Vorzeigestar bei einer Company vom festen Vertrag entbinden, um als Gast oder Gala-Star zu reüssieren. Dass jemand dann aber so konsequent tänzerisches und auch organisatorisches Neuland betritt wie Lucia Lacarra und Matthew Golding, ist außergewöhnlich.

Sie tragen allerdings auch deutlich mehr Verantwortung und auch ein finanzielles Risiko, das sie als Tanz- und Galagäste nicht am Hals hätten. Matthew Golding, der wie Lucia eine wirklich umfassende Weltkarriere im Ballett hinter sich hat, ist indes ein ebenso souveräner wie kreativer Kopf.

Für das erste gemeinsame Stück "Fordlandia", das in Madrid erstmals gezeigt wurde und seine deutsche Erstaufführung in Dortmund erlebte, nahmen sich Lucia und Matthew noch choreografische Profis als Partner:innen.

Darunter Yuri Possokhov, einen Star des Bolschoi Theaters, der dort mit seinem Stück über die Ballettikone "Nurejew" Furore machte. Aber auch der ebenfalls weltbekannte Brite Christopher Wheeldon, dessen Pas de deux "After the Rain" ein Paradestück auch für Galas von Lacarra und Golding wurde, prägte mit seiner choreografischen Handschrift Teile von "Fordlandia" .

Mittlerweile traut sich Golding aber zu, selbst für seine Superballerina und sich zu choreografieren. Tatsächlich kennt er ja die Stärken des gemeinsamen Zusammenspiels und, nun ja, auch die Schwächen, die es zu vermeiden gilt. Kunst bedeutet immer, die individuellen Fähigkeiten herauszustellen, um sie in einen sinnvollen Kontext zu rücken.

Die Liebesgeschichte, die Matthew und Lucia entwickelten, entsprang ihrer gemeinsam gelebten Kreativität. Und sie lässt den Zuschauer:innen sogar Spielraum für die Entscheidung, ob die "Stille der Nacht" tragisch oder mit einem Happy End ausgeht.

Doch hinter dem Gelingen dieser Show steht sehr viel Mühe. "Wir stecken alle Energie, alle Emotionen, all unsere Kompetenz in unsere Arbeit", beschreibt Lucia Lacarra ihr Lebenscredo. Es war schon anstrengend, sich im Ballett an die Weltspitze zu tanzen. Aber dann auch noch aus eigener Initiative absolutes Neuland zu betreten - das ist ein gerade in der Leistungskunst Tanz unüblicher Kraftakt.

"Ich habe so viele tolle Hauptrollen getanzt im Ballett", erinnert sich Lacarra, "im klassischen wie im modernen Bereich. Aber sie waren immer sozusagen Geschenke, die mir gemacht wurden. Man kann es sich als Tänzer:in normalerweise nicht aussuchen, was man tanzt, sondern man wird ausgewählt und besetzt."

Jetzt genießen sie und Matthew Golding es, dass sie von Beginn an die Kunstentwicklung steuern können: "Die Stücke sind wie Kinder für uns. Wir planen sie, wir bringen sie zur Welt. Wir erleben den Prozess, wie sie durch unsere Entscheidungen entstehen und wachsen. Das ist etwas ganz Anderes als einfach nur das zu tanzen, was vorgegeben wird."

Allerdings: Wieviel Organisation und Mühe im Detail in solchen großartigen Tanzabenden steckt, haben sie beide vorher nicht gewusst. Sie sind jetzt ihre eigenen Manager und Veranstalter, und sie müssen selbst auf sich aufpassen. Für Körperkünstler:innen, die mit sich selbst sehr achtsam umgehen, ist das eine starke Doppel- und Dreifachbelastung.

Dennoch: Die neuen Wege, die sie beschreiten, machen die beiden glücklich. Lucia sagt sogar, sie genieße ihre Arbeit mehr denn je. Denn der Aspekt der Selbstbestimmtheit ist eben doch ein wesentlicher.

Aber auch das sagen Lucia Lacarra und Matthew Golding übereinstimmend: Das Ballett Dortmund als Kooperationspartner und Koproduzent ist für sie sehr wichtig. Ohne eine große Institution mit ihrer energetischen und auch finanziellen Power im Rücken zu haben, wäre eine so aufwändige, an Effekten überreiche Show wie "In the Still of the Night" wohl unmöglich.

Und doch sind es im Grunde nur Mann und Frau, auf die man hier blickt - umso fesselnder ist das, was sie in ihrer Kunst zu zelebrieren wissen. Wie gesagt: Mondlicht, Leidenschaft und eine surreale Geschichte können die ganze Welt beinhalten. Auch die eines Tänzerpaares, das sich selbstständig gemacht hat.

Gisela Sonnenburg ist als Journalistin breit aufgestellt, gründete 2014 das Ballett-Journal auf www.ballett-journal.de und ist auch als Choreografin tätig.

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