Neues Chaos im US-Zivilisationsrettungsprogramm
Wie treu sind die Nato-Gefährten Amerikas?
Frankreich, Belgien und Deutschland legen ihr Veto gegen die Nato-Schutzmaßnahmen zu Gunsten der Türkei ein. Europa uneins, Nato uneins, die Bush-Krieger rasen. Der amerikanische Nato-Botschafter Nicholas Burns redet gegenüber den Vertretern einer Politik des Augenmaßes von einer "Krise der Glaubwürdigkeit", als wäre es nicht die US-Regierung selbst, die inzwischen immer stärker gegen die hausgemachten Glaubwürdigkeitsdefizite zu kämpfen hat.
Nach den Verlautbarungen der "Vierer-Bande", Paris, Berlin, Moskau, Peking, zu einer diplomatischen, friedlichen Lösung des Irak-Konflikts, den Bitten von Uno-Chefinspektor Hans Blix und IAEA-Chef Mohammed al-Baradei, man möge ihnen mehr Zeit einräumen und schließlich auch den Ermahnungen des Papstes gegenüber dem bellizistischen Methodisten George W. Bush, herrscht nun auch offener Zwist in der Nato. Zwar erklärt Nato-Generalsekretär Lord Robertson seine Zuversicht, die drei Abweichler doch noch zu überzeugen. Doch längst stellt sich die Frage, ob der Überzeugungsprozess nicht allmählich umgekehrt verläuft.
Bushs Politik, den Krieg als Vater effizienter politischer Lösungen der Welt aufzuzwingen, hat bereits vor seiner irakischen Bewährung ein internationales Chaos ausgelöst, das seinesgleichen sucht und politisch erheblich gefährlicher sein könnte als die vorgeblich apokalyptischen Potenzen des Bösen von Bagdad. Denn nicht nur wurden in einigen Wochen alte Freundschaften und Bündnisse auf das Spiel gesetzt. Auch die Achse des Bösen macht inzwischen mehr Ärger als je zuvor.
Nordkorea droht mit präventiven Atomschlägen im Fall von amerikanischen Truppen vor der Haustür. Teheran bastelt mit frischem Mut an seinen atomaren Anlagen. Und in Kabul wird Verteidigungsminister Struck bei seinem Truppenbesuch von Raketen beschossen, weil wohl das Wissen abhanden gekommen ist, dass man zunächst Brände löscht, bevor man neue legt. Die amerikanische Zivilisationsrettung hat ihre Konflikttauglichkeit in einem Ausmaß unter Beweis gestellt, wie man es sich wohl weder in Washington noch in den anderen Regierungszentralen der beteiligten Nationen je vorgestellt hätte. Die unterkomplexe Politik der US-Regierung fordert immer hartnäckiger ihren Tribut und Washington fällt außer Empörungsrhetorik nicht mehr viel dazu ein.
Was nach dem polemokratisch talentierten US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eine "Schande" ist, sollte zunächst einmal sachlich auf die vermeintlichen Gefahren hin erörtert werden. Selbst wenn sich die Amerikaner unter Bush ihren sehnlichsten Friedenswunsch erfüllen, den Irak anzugreifen, ist das Angriffsszenario auf die Türkei eine weitere tendenziell paranoide Projektion der Angreifer. Der Irak mag zwar so töricht sein, sich gegen die christliche Präventionsarmada zu verteidigen, obwohl doch jede Patrone eine vergebliche Anstrengung wäre, den eigenen Untergang zu verhindern. Aber selbst wenn Saddam Hussein allen am Angriff beteiligten Staaten ewige Rache schwören sollte, dürfte diese Drohung zu seinen Lebzeiten nach dem von den USA angekündigten verheerenden Luftkurzkrieg schon aus simplen militärischen Gründen nicht mehr einzulösen sein.
Konsens nur noch als Vorbereitungsritual für den Krieg?
Warum aber sollten jetzt Nato-Maßnahmen für den höchst unwahrscheinlichen Angriff Saddam Husseins auf die Türkei beschlossen werden? Frankreich hat überdies ausdrücklich erklärt - und Deutschland sieht das nicht anders -, dass im Falle eines solchen Angriffs die Türkei verteidigt würde. Immerhin liefert Deutschland in den nächsten Tagen sogar die von der Türkei begehrten Patriot-Raketensysteme.
Doch hier geht es nicht um militärstrategische oder -taktische Kalküle. Die Politik der Bush-Regierung lässt auch in diesem undiplomatischen Frontabschnitt nichts an der inzwischen bis zum Überdruss bekannten Durchsichtigkeit zu wünschen übrig. Die Nato soll um jeden Preis in die kommenden Auseinandersetzungen verwickelt werden. Wenn erst die Nato "Schutzmaßnahmen" für die Türkei ergriffen hat, sitzt sie im Kanonenboot der Alliierten tief mit drin. Die alteuropäischen Quertreiber würden dann ihrer Möglichkeit beraubt, noch souveräne, d.h. antiamerikanische Entscheidungen zu treffen, weil der internationale Sog des Konflikts genügend Eigendynamik besäße, um Amerikas Krieg getreu den Strategieszenarien Washingtons zu führen. Über den Schulterschuss der Nato würde der US-Präsident zudem den ultimativen Kriegsbeschluss des Uno-Sicherheitsrats weiter forcieren oder anderenfalls die Uno endgültig in die politische Bedeutungslosigkeit verabschieden, die sie seit je für Amerika besaß. Oder sollte die Nato ihre Umrüstung zum global agierenden Antiterror-Bündnis nicht mehr allzu lange überleben?
Auch in der Kriegsverwicklung der Nato drückt Amerika auf die Zeit, weil das die einzige Garantie zu sein scheint, nicht schließlich im Fiasko eines amerikanischen Rückzugs das Gesicht zu verlieren. Die von Washington an allen neuralgischen Stellen angelegte Zeitschraube für die Lösung des Konflikts ist eine unerträgliche Kondition für ein einvernehmlich abgestimmtes Vorgehen von Uno, Nato und anderen internationalen Partnerschaften. Es ist mit den Regeln rationaler Politik nicht mehr zu erklären, dass noch vor den Bericht der Uno-Inspektoren Präsident Bush bereits verkündet, das Spiel sei aus und nun auch noch der Nato abwegige Verteidigungsmaßnahmen aufdrängt.
Nach Donald Rumsfeld ist die Ablehnung von Nato-Schutzmaßnehmen "ein schrecklicher Fehler, ein überraschendes und atemberaubendes Ereignis" und droht den Abweichenden wie Aussätzigen, sie würden "judged by their own people and the other members of the alliance".
Möge ihm eine ironische Geschichte ersparen, von seinem eigenen Schicksal zu reden. Rumsfelds Überraschung könnte jedenfalls nicht die letzte gewesen sein, wenn man weiterhin einer entwirklichten Wirklichkeitsphilosophie folgt, die den politischen Konsens nur noch als Vorbereitungsritual des Krieges kennt. Die Politik der unbedingten Sicherheit ist selbst das Sicherheitsrisiko. Hinter Amerikas selbstgerechten Erregungen verbirgt sich das Erstaunen, dass das Kalkül, die Welt in zwei griffige Lager aufzuteilen, bereits jetzt endgültig gescheitert ist. Und daran ändert auch der Krieg nichts, sondern könnte ganz im Gegenteil die Übermacht der Wirklichkeit gegenüber ihrer militärischen Vermessung erweisen.