Neues Forum und alte Genossen
Gespräch mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley über die dramatische Zeit der Wende und die Gegenwart
Kürzlich erschien eine "Chronik der Bürgerbewegung NEUES FORUM 1989-1990", zu der die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley ein bemerkenswertes Vorwort beisteuerte, in dem sie auch über die Entwicklungen in den letzten zwei Jahrzehnten schreibt. Die Geschichte des "Neuen Forums", die sich damals lange im Geheimen abgespielte und auf diese Weise die mächtige DDR-Staatssicherheit umging, ist heute erstaunlich unbekannt. Im Gespräch mit Telepolis über Vergangenheit und Gegenwart beweist Bärbel Bohley noch immer Courage.
Im November 1987 überreichte die prominente GRÜNEN-Politikerin Petra Kelly dem DDR-Staatschef Erich Honecker bei dessen Staatsbesuch in Bonn das Bild "Niemandsland" der Malerin Bärbel Bohley, ein Symbol, mit dem Kelly im Schatten von Gorbatschows Perestroika auch von der DDR Veränderung forderte. Die in der DDR erfolgreiche Künstlerin Bohley hatte u.a. die ostdeutsche Sektion der internationalen unabhängigen Initiative "Frauen für den Frieden" gegründet, schon lange fungierte ihr Atelier am Prenzlauer Berg als Anlaufstelle für Oppositionelle. Als Reaktion auf Kellys Provokation führte die Staatssicherheit eine Razzia in der Umweltbibilothek der Zionskirche durch, wo man unter dem Schutz der Kirche das Oppositionsblatt "Grenzfall" der "Initiative für Frieden und Menschenrechte" drucken wollte. Es folgte eine Verhaftungswelle, die im Gegenteil die Kritiker nicht etwa mundtot machte, sondern maßgeblich zu deren Bekanntheitsgrad beitrug und Solidarität auslöste.
Im Januar 1988 war es beim Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxembourg und Karl Liebknecht ausgerechnet das Plakat mit dem Zitat der Kommunistin "Freiheit ist immer die des anders denkenden", welches der kommunistische Staat nicht tolerieren wollte. Nach über hundert Festnahmen und Hausdurchsuchungen ließ sich die Kirche einschüchtern - u.a. in Person von Konsistorialpräsident Manfred Stolpe. Die Kirche war nicht bereit, ein entsprechendes Telefon zu stellen, weshalb Bohley dieses in ihrem Atelier provisorisch eine Woche im Dauereinsatz weiterbetrieb. Ein Vertrauter in diesen Tagen war Rechtsanwalt Wolfgang Schnur gewesen - der 1990 als "IM Torsten" unrühmlich bekannt werden sollte.
Ein anderer Rechtsanwalt, Rolf Henrich, suchte konspirativ Kontakt zu Bohley, um sie von seinem systemkritischen Buch "Der vormundschaftliche Staat" zu überzeugen. Henrich bat Bohley, das Manuskript nach Westdeutschland zu schleusen. Da die rebellische Pazifistin mit einer Verhaftung rechnete, übertrug sie den Auftrag vorsichtshalber ihrer Freundin Katja Havemann, der Witwe des Regimekritikers Robert Havemann. In der Nacht zum 25.01.1988 erfolgte die Verhaftung - selbst der Freund, der Bohley ein neues Türschloss eingebaut hatte, war ein StaSi-Informant geweseb. Die Frau, die Konspiration als unwürdig empfand und daher lange mit offenem Visier gekämpft hatte, landete wieder in der Zelle des berüchtigten StaSi-Gefängnisses Berlin-Hohenschönhausen, die sie bereits Jahre zuvor wegen Verteilens einiger Exemplare regimekritischer Bücher der Schriftsteller Lutz Rathenow und Frank Wolf Matthies kennen gelernt hatte. Man wollte Bohley ins Ausland abschieben, etwa für drei Jahre, um einen politisch unangenehmen Prozess zu vermeiden.
Abschiebung
Eine Woche nach der Verhaftung traf sie auf einen Rechtsanwalt, den ihr Katja Havemann besorgt hatte, und der als in der SED gut vernetzter Sohn des Staatssekretärs für Kirchenfragen als idealer Partner erschien - Dr. Gregor Gysi. Der schlug ihr wie zuvor schon Anwalt "IM Torsten" Schnur eine zeitweilige Ausreise als Ausweg vor. Als Schnur ihr schließlich nach Rücksprache mit Stolpe mitteilte, eine Rückkehr sei eher nicht möglich, bestand Bohley auf der Durchführung eines Prozesses. Dennoch wurde die sture Frau in den Westen abgeschoben.
Katja Havemann gelang es, eine Korrespondentin der "ZEIT" für den Transport einer Pralinenschachtel in den Westen zu gewinnen. Ohne es zu wissen, schmuggelte die Journalistin in der Schachtel Henrichs Manuskript über die deutsch-deutsche Grenze in den Westen, wo das Werk bald gedruckt wurde. Die StaSi, die inzwischen den verdienten Parteisekretär Henrich verdächtigte, fand bald heraus, dass die Veröffentlichung in der DDR für Ende 1988 geplant gewesen war, und beobachtete die Kritiker genauer.
Rückkehr
Angesichts ihres gezahlten Preises wollte sich Bohley nicht mit einem Exil abfinden. Ihre Freundin Kelly setzte sich schließlich geschickt bei Honecker für eine Wiedereinreise-Erlaubnis ein, die der Staatschef schließlich gewährte. Die Heimkehr sollte jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Tschechoslowakei erfolgen. Anfang August traf Bohley schließlich in Prag wieder auf das Gespann Gysi und Stolpe, das Bohley diskret nach Berlin fuhr.
Bohley dachte nicht daran, aufzugeben. Inzwischen hatte sie das Vertrauen in eine Partnerschaft mit der Kirche aufgegeben, von der sie sich mehrfach verraten fühlte. Die Kirche empfand sie als reglementierend und zensierend, eben als Stellvertreterin staatlicher Bevormundung. Mittlerweile erwiesen sich die Versuche der DDR-Führung, die Impulse der Perestroika zu ignorieren, als immer hilfloser und gipfelten vorläufig im Verbot einer Ausgabe des russischen Magazins "Sputnik". Nachdem die Kritiker immer selbstbewusster demonstrierten, inszenierte die StaSi im Januar 1989 die Scheinorganisation "Freidenker", welche die Bewegung spalten und Oppositionelle abziehen sollte, wo man sie verdeckt kontrollieren wollte. Ähnliche gesteuerte Organisationen nach Muster des von Tscheka-Gründer Felix Derschinsky inszenierten TRUST hatten sich früher in den östlichen Systemen bewährt, um Dissidenten in die Falle zu locken. Die DDR-Freidenker jedoch gerieten zum Flop - zu stark war inzwischen das Vertrauen in die unbeugsame Bürgerrechtlerin.
Erfolgreicher waren zur gleichen Zeit jedoch andere Zersetzungsstrategien der StaSi. Einmal konnte der Geheimdienst sogar ungeplant Zwietracht sähen: So scheiterten Bohley und Havemann mit ihrer Verdächtigung gegenüber der "Bürgerrechtlerin" Monika Haeger, die sie für eine StaSi-Agentin hielten. Nachdem Haeger, die acht Jahre im Inneren der Bewegung gewirkt hatte, das Vertrauen ausgesprochen worden war, waren es nun Bohley und Havemann, die ausgegrenzt wurden. Tatsächlich jedoch war Haeger nicht nur eine informelle Mitarbeiterin (IM), sondern sogar eine hauptamtliche Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit in besonderer Verwendung gewesen.
Der StaSi gelang es nicht, den Druck der Textsammlung "40 Jahre DDR ... und die Bürger melden sich zu Wort" zu verhindern. Das süffisant mit dem Staatswappen gezierte Buch wurde ausgerechnet auf dem Grundstück der Havemanns produziert, wo Robert Havemann seinerzeit seinen Hausarrest verbracht hatte. Inzwischen war die Bürgerrechtlerin dazu übergegangen, ihre Pläne geheimer zu halten. Mit Katja Havemann und Henrich wurde die Gründung einer politischen Vereinigung vorbereitet, die unter konspirativen Umständen Formen annahm.
Im April 1989 erschien endlich Henrichs Buch "Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus", das dessen Parteiausschluss und ein Berufsverbot zur Folge hatte, jedoch landesweite Einladungen zu Vorlesungen nach sich zog. Eine Verhaftung wagte der Staat inzwischen nicht mehr. Im Mai kam es in Ungarn zu den Grenzöffnungen, die zu einer Fluchtwelle führte. Gleichzeitig wiesen Oppositionsgruppen systematisch Wahlbetrug nach. Das Massaker auf dem Tiananmen-Platz vom Juni 1989, wo sich die chinesische Staatsführung in einer ähnlichen Situation wie der DDR-Staatsrat befand, wirkte sich polarisierend auf das politische Klima aus - die einen resignierten, die anderen leisteten erst recht Widerstand.
"Neues Forum"
Bis zum Juli war es Bohley gelungen, ihre außerhalb der Kirchenkreise agierende Bewegung vor den Augen und Ohren der StaSi zu verbergen, obwohl 20 der späteren 30 Erstunterzeichner überwacht wurden. Durch Spitzel und Einsatz einer Wanze wurde die StaSi wenigstens Zeugin der Gründungsversammlung des "Neuen Forums". Der Nutzen dieser Spitzelei hielt sich in Grenzen, denn es war ohnehin beschlossen worden, die Bewegung ganz offiziell anzumelden - landesweit und dezentral auf allen Ebenen. Als Zeitpunkt hierfür war ursprünglich vorgesehen gewesen, den 40.Jahrestag der DDR-Gründung abzuwarten. Aufgrund der Fluchtwelle verlegte das Neue Forum seine Gründungsversammlung um vier Wochen auf den 09.09.1989 vor. Unter streng konspirativen Umständen traf man sich im Haus von Havemann, wobei den handverlesenen, meist einander unbekannten Personen untersagt gewesen war, Fremde mitzubringen. Jemand setzte sich über diese Sicherheitsmaßnahme hinweg - und verschaffte dadurch dem einzigen StaSi-Spitzel Zutritt, "IM Paule". Möglicherweise ein Glücksfall, denn die StaSi verzichtete letztlich deshalb auf einen Zugriff, damit IM Paule weiter unerkannt aufklären konnte. Fünf Tage zuvor hatten sich DDR-Bürger zur ersten Montagsdemonstration getroffen und eigene Gruppen gegründet.
Das Neue Forum verfasste den berühmten Gründungsaufruf, der durch Hektographieren bis zum schlichten handschriftlichen Abschreiben verteilt werden sollte. Doch die Geschwindigkeit, mit welcher sich das Papier verbreitete und von zahlreichen Bürgern offen unterzeichnet wurde, übertraf alle Erwartungen. Die Namen zweier früher Unterzeichner lauteten "Angela Merkel" und "Wolfgang Thierse". Schon zwei Wochen später war das "Neue Forum" landesweit etabliert. Während einige Bürgerrechtler auf die Gründung einer Dachorganisation drängten, beharrte Bohley auf einem dezentralen Modell autonomer Gruppen.
Der Staat, dessen Kenntnisstand in einem StaSi-Rundschreiben vom 19.09.1989 dokumentiert ist, lehnte die Zulassung des Neuen Forums mit der Begründung ab, es fehle an "gesellschaftlicher Notwendigkeit" und drohte strafrechtliche Konsequenzen an. Bohley wurde jedoch diesmal durch die Öffentlichkeit geschützt, Journalisten belagerten ihr Atelier, wo ständig neue Listen mit Unterschriften aus allen Landesteilen angeliefert wurden. Der Ruf nach Zulassung des Neuen Forums bildete eine ständige Forderung der Leipziger Montagsdemonstrationen. Anwalt Gysi fiel die Aufgabe zu, die Zulassung weiterhin beim Staat zu versuchen. Am 02.10.1989 hielt das Neue Forum in der Schweriner Paulskirche die erste öffentliche Sitzung ab - auch ohne Zulassung. Nach der großen 40-Jahresfeier der DDR kam es am 08.10.1989 zu gewaltsamen Polizeieinsätzen an der Berliner Gethsemanekirche nebst einer Massenverhaftung, Bohley wurde in ihrem Atelier festgenommen. Doch die von Bohley stammende Parole "Wir sind das Volk" war in der Welt, und sie blieb es.
Als der Staat am 11.10.1989 erstmals zu Gesprächen bereit gewesen war, verlangte das Neue Forum zunächst die Freilassung der Inhaftierten sowie die Zulassung der neuen Gruppen, den Zugang zu den Massenmedien, Pressefreiheit und die Abschaffung der Zensur sowie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. In Sicherheitskreisen wurde mit Unverständnis aufgenommen, dass man über das Neue Forum nahezu keine brauchbaren Informationen besaß. War es dem Ministerium für Staatssicherheit vier Jahrzehnte lang gelungen, nahezu jede Operation der westlichen Geheimdienste in der DDR bereits im embryonalen Zustand zu infiltrieren, so hatten IM Paule und die StaSi-Strategen diesmal versagt. Der straffest organisierte Geheimdienst der Welt, dessen Personalstärke von über einer Million informellen Spitzeln selbst die kühnsten Verschwörungstheorien westlicher Geheimdienste bei weitem übertraf, war an einer Hand voll couragierter Menschen gescheitert, angeführt von einer Malerin.
Die inzwischen 200.000 Unterzeichner konnte man nicht alle einsperren. Noch im Oktober durfte Bohley auf Kundgebungen sprechen; der gerade abgesetzte StaSi-Chef Erich Mielke musste sich verantworten, was ihn zu einer obskuren öffentlichen Liebesbekundung veranlasste.
Die Revolution in der DDR wurde dezentral von allen Schichten mitgetragen. Der Aufruf zu Gewaltlosigkeit wurde letztlich auf beiden Seiten befolgt. Arbeiter in Dessau legten etwa ihre Gewehre auf die Gleise, die NVA stand für militärische Lösung gegen das eigene Volk nicht zur Verfügung.
Konspirierte der Bundesnachrichtendienst mit der StaSi?
Spielte das Neue Forum während der Wende eine zentrale Rolle, etwa am Runden Tisch, so verlor sich der Einfluss der Gruppe im Zuge der Vereinigung. Diese sei von Schäuble mit Leuten ausgehandelt worden, die - so Bohley - eigentlich in der DDR kein gutes Image gehabt hätten. Lothar de Maizière, das sei ein Ost-Anwalt gewesen, von denen es nicht allzu viele gegeben habe. Und bei jedem Anwalt in der DDR sei ja Frau Bohley zufolge eigentlich klar gewesen, dass er bereit gewesen sei, mit dem System zu kooperieren, statt gegen das System zu arbeiten. Da habe es nicht einen gegeben, der das gemacht hätte. De Maizière sei schon aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Blockpartei CDU (Ost) Systemträger gewesen, ebenso Krause und Diestel - die beide später u.a. wegen Wirtschaftsdelikten wie Untreue verurteilt wurden. De Maizière trat 1990 nach Bekanntwerden von Vorwürfen zurück, er habe als "IM Czerny" der StaSi zugetragen. Dass die Bürgerbewegung solche Verhandlungsführer zugelassen und hiergegen zu wenig Widerstand aufgebaut hatte, bereut Bohley im Nachhinein sehr. Der Westen hätte statt mit diesen Leuten legitimer mit dem Neuen Forum verhandeln sollen.
Wie professionell man die Bürgerrechtler umging, wurde erst im Nachhinein - mehr oder weniger - bekannt: So soll der Bundesnachrichtendienst Anfang 1990 u.a. mit dem StaSi-Mann Alexander Schalck-Golodkowski verhandelt haben, wie man mit der Bürgerbewegung fertig werden könne. Offiziell bestreiten dies der BND und seine Veteranen, doch auch Geheimdienst-Experten bewerten solche Dementis als Aufrechterhalten einer offiziellen Legende. Die Bilanz spricht für Bohleys Interpretation, denn die ganzen Strukturen, die das Neue Forum aufgebaut hatte, wurden von der aus Bonn betriebenen Wiedervereinigung überholt, während Schalck-Golodkowski, der als BND-Quelle "Schneewittchen" sein wertvolles Wissen mit den Westspionen teilte, faktisch unbehelligt ein luxuriöser Lebensabend am Tegernsee vergönnt gewesen war. Kohl und Schäuble hatten sich sogar für eine Amnestie der StaSi-Mitarbeiter ausgesprochen. Aufgrund gesperrter Akten ist eine Beurteilung erschwert, vgl. den abweichenden Bericht von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Schalck-(Nicht-)Untersuchungsausschuss von Ingrid Köppe.
Es ging sozusagen um die Machtverteilung nach dem Fall der Mauer. Wie sieht die aus in Deutschland? Ist es da überhaupt gut, wenn die Bürgerbewegung da mit dran teilnimmt? Oder sind solche willfährigen Leute, die im Grunde genommen schon in der DDR "keen Mumm" hatten, sich mal zu wehren, die besseren Partner, um irgendwie bestimmte Sachen durchzusetzen? Und das ist doch eigentlich das Interessante, dass sich die Kohl-Regierung doch diejenigen als Verhandlungspartner ausgesucht hatte, die eigentlich gar nichts Eigenes dem entgegen setzen konnten, und dass man versucht hat, die, die etwas Eigenes wollten, auszugrenzen.
Bärbel Bohley
Vereinigung zu früh?
Das Volk sei wieder "marginalisiert" worden, so Bohley. Es sei nachträglich betrachtet ein Fehler gewesen, das Neue Forum als eigenständige Struktur aufzugeben. Ein Großteil sei damals im "Bündnis 90" aufgegangen, aber weder dort, noch in den anderen Parteien sind heute die Namen der DDR-Bürgerrechtsbewegung prominent vertreten. Ostpolitiker seien in den Parteien ohnehin unterrepräsentiert. Eigentlich falle ihr nur Angela Merkel ein, die sich im "Demokratischen Aufbruch" engagiert hatte, sowie vielleicht der von der Kirche kommende Wolfgang Thierse. Das Neue Forum hätte damals einen gewichtigen Namen gehabt, der mit dem der anderen Parteien hätte konkurrieren können. Sie selbst allerdings wollte nie in eine Partei gehen, mochte sich keiner Parteidisziplin unterordnen.
Für die Bevölkerung selbst sei die Wende möglicherweise zu schnell gekommen. Plötzlich sei die Mauer weg gewesen, über Nacht habe das Telefon ein neues Klingelzeichen bekommen, es sei Schlag auf Schlag gegangen. Das Vorpreschen Helmut Kohls, der gegen außenpolitische Widerstände die Vereinigung durchboxte, sei zwar richtig gewesen. Viele DDR-Bürger hätten damals befürchtet, die SED könne sich die Macht zurückholen, die Sicherheitsapparate und Parteigänger seien ja im Prinzip noch alle da gewesen. Einen Einblick in die damalige Mentalität der StaSi-Leute erlaubt ein Sitzungsprotokoll vom November 1989.
Aufarbeitung
Auch die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte nahm die resolute Frau selbst in die Hand und marschierte im Mai 1990 mit einem Bürgerkomitee in das Hauptquartier der StaSi in der Normannenstraße, wo sie nach ihrer Akte suchte. Als der für Osteuropa zuständige CIA-Direktor Milton Bearden die Szenen von der Erstürmung der Normannenstraße im amerikanischen Fernsehen sah, stauchte er seine Mitarbeiter telefonisch zusammen, diese mögen sich sofort am Beutezug beteiligen. Sowohl der StaSi, also auch der CIA hatte Bohley gezeigt, wer früher aufsteht.
Für den Verbleib der Akten auf dem Gebiet der DDR trat sie neben der Besetzung auch mit einem Hungerstreik ein. Heute kann sich jeder Betroffene an die weltweit ohne Vorbild entstandene StaSi-Unterlagenbehörde wenden, der seine Geschichte in Erfahrung bringen möchte. Während die entmachteten östlichen Geheimdienste ihre Geheimnisse offen legen mussten, blieb ein vergleichbares Schicksal den westlichen Diensten erspart- aber auch so manchem westlichen Politikern, über deren Treiben man daher vielfach nur spekulieren kann.
Inzwischen jedoch sei klar geworden, dass man mit dem (west-)deutschen Rechtsstaat das DDR-Unrecht nicht aufarbeiten könne. Aufgrund des von der Rechtsprechung besonders stark gewichteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei die Wahrheitsfindung schwierig. So wurde es der Bürgerrechtlerin, die u.a. für das Recht auf freie Meinungsäußerung in den StaSi-Knast gegangen war, vom Landgericht Hamburg verboten, Gysi der Mitarbeit bei der StaSi zu verdächtigen. Von Gysi sieht sich Bohley verraten, da in ihrer Akte ein Vier Augen-Gespräch mit ihrem damaligen Anwalt protokolliert ist, dessen Quelle mit "IM Notar" bezeichnet worden war. Gysi dagegen bestreitet eine Zusammenarbeit mit der StaSi, die Information müsse durch Abhören oder auf anderem Wege gewonnen worden sein. Tatsächlich gibt es erwiesene Fälle, in denen als Quellenbezeichnung für mit "Wanzen" gewonnene Informationen in den Akten z.B. "IM Otto" benutzt wurde. Doch u.a. Bohleys Erfahrung etwa mit ihrem anderen Anwalt Wolfgang "IM Torsten" Schnur, der später ebenfalls eine politische Karriere verfolgt hatte, bis den Opportunisten seine StaSi-Vergangenheit einholte, prägt ihr Misstrauen. Als Kennerin des DDR-Apparats, in dem sich Anwälte nun einmal mit dem System arrangieren mussten, lasse sie sich ihre Meinung nicht verbieten, da könne sie das Hamburger Gericht 100 mal verurteilen und maßregeln. Trotz des Verbots hat die in Hohenschönhausen an Gefängniszellen gewöhnte Bürgerrechtlerin ihre Verdächtigungen mehrfach wiederholt, würde sogar eine Ordnungshaft inkauf nehmen. Da schlafe man gut, da werde man ja auch gut bewacht. Für Gysi, der so beschäftigt sei, ständig seine Partei umzubenennen, empfindet sie beinahe Mitleid. Was das wohl an Geld koste, jedes mal den Parteinahmen auszutauschen?
Dass so viele Personen des DDR-Staats, die sich früher systemstabilisierend betätigt hatten, sich nicht still auf ihre Datscha zurückziehen, sondern wieder Funktionen im Öffentlichen Leben wahrnehmen, kann Bohley kaum nachvollziehen. Der Pazifismus, mit dem die Linkspartei heute um Wähler werbe, sei ihr früher nie aufgefallen. Viele Entwicklungen in der Nachwendezeit begleitete die Pazifistin, die seinerzeit immerhin als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt gehandelt wurde, mit lauter Kritik und zog sich schließlich 1996 von der deutschen politischen Bühne zurück. Stattdessen ging sie nach Bosnien wo sie sich um Kriegsflüchtlinge kümmerte.
Überwachung 2009
Während die StaSi überwiegend auf ein dichtes Netz an V-Leuten gesetzt und nur spezifisch Verdächtige abgehört hatte, die Akten häufig sogar handschriftlich führen ließ, haben sich die technischen Möglichkeiten und das Ausmaß der Überwachung heute dramatisch geändert. Hierauf angesprochen, kommentiert die erfahrene Bürgerrechtlerin:
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich das so nicht erwartet habe. Man hatte ja immer einen Unterschied gemacht zwischen der eigentlich geheimdienstlichen Arbeit und der flächendeckenden Überwachung der Bevölkerung. Und die dient ja vor allem dazu, Macht auszuüben und Machterhalt zu garantieren. Dazu musste man in der DDR viel über die Bevölkerung wissen, musste sie im Griff haben. Jede Regung, die sich gegen das System richtete, musste frühzeitig erkannt und dann gebrochen werden.
Und jetzt nach 20 Jahren frage ich mich: Warum wird hier denn eigentlich überwacht? Das ist etwas, was ich überhaupt gar nicht so richtig verstanden habe. Dieses System trägt sich in gewisser Weise selbst, der Kapitalismus ist beweglich, da können noch ein paar krisengeschüttelte Jahre kommen, der überlebt das. Also warum wird jetzt hier überwacht? Wen interessiert das, was man telefoniert? Ich meine, in der DDR habe ich das manchmal auch nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich das noch viel, viel weniger. Denn diese Machtgelüste, die damit verbunden sind, oder die Einflussnahme des Ostens [gemeint sind die in den westlichen Diensten und Sicherheitsfirmen untergekommenen StaSi-Techniker], die damit verbunden sind, die sind mir doch schon ein wenig gruselig. Also das kann ja eigentlich kaum anders sein, als dass man sich besser mit dem Sicherheitssystem westlicherseits auseinander gesetzt hat, als mit den Leuten, die sich für Bürgerrechte eingesetzt haben. Von uns sind nicht allzu viele in der Politik.
Bärbel Bohley
Der offiziellen Begründung, "Terror", vermag sie nicht zu folgen. Es habe sich ihr bis heute nicht enthüllt, was man mit der flächendeckenden Überwachung wolle. Was hat denn Herr Schäuble davon, dass ihm sämtliche Telefonate zugänglich sind? Dies sei eine Milchmädchenrechnung. Es gäbe nun einmal im Leben keine Sicherheit, und ihre Sicherheit könne Herr Schäuble auf gar keinen Fall garantieren.
Internet
Den Siegeszug des Internet bekam die Pazifistin nur sehr am Rande mit, da sie von 1996 an bis 2008 in Bosnien gelebt hatte und vornehmlich für Emails verwendete. So ganz warm ist Bärbel Bohley, die auch eine eigene Website pflegt, mit dem Internet noch nicht geworden. Dieses Medium sei ihr zu hektisch. Überhaupt habe sich die Medienlandschaft während ihres Auslandsaufenthalts radikal geändert. Es sei klar, dass den alten Parteien dieser neue Stammtisch im Internet nicht geheuer sei, der fernab der etablierten Talkshows die öffentliche Meinungsbildung mitbestimme. Die jungen Leute der Piratenpartei, die sich ähnlich wie einst das Neue Forum außerhalb der etablierten Parteistrukturen für eine Stärkung der Bürgerrechte einsetzten seien ihr sympathisch. Doch sei die Situation kaum vergleichbar, das Neue Forum habe eine ganze Gesellschaft "umgeschmissen". Die Piratenpartei müsse noch sehr viel wachsen, eine richtige Bewegung schaffe man nicht, in dem man einfach mal den Computer stehen lässt und eine Partei gründet. Die Vorstellung, einen Großteil des Lebens im Internet zu verbringen, ist ihr suspekt; Lösungen für die Probleme der Offline-Welt habe die Piratenpartei offenbar noch nicht geboten. Das Leben könne sehr schnell anders aussehen - etwa wenn der Strom weg sei!
Auf die Frage, ob sie zum Abschluss des Gesprächs den Telepolis-Lesern noch etwas Wichtiges zu sagen hätte, zögert die Frau, die keine Autoritäten mag, und auch selbst nicht dozieren möchte.
Habt keine Angst! Öffnet eure zwei Augen! Benutzt euren eigenen Kopf!
Bärbel Bohley