New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

Seite 2: IV.2 Das Leibliche

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Zigarettenrauch-geschwängerte Straßenbahnhaltestellen - Sprachengewirr an belebten Plätzen - die Atmosphäre eines Cafés - die Schwindel erregenden, auseinanderlaufenden Geraden einer Universität …

"Stadt" zeigt sich dem beobachtenden Subjekt mit allen körperlichen Sinnen. Doch nicht jede Situation kann in Konstellationen von Sinnesdaten zerlegt werden.8 Viele Wahrnehmungen enthalten ein Mehr, für das wir oft keine genaue Sprache finden. Um so etwas besser auszudrücken, macht der Philosoph Hermann Schmitz mit der Neuen Phänomenologie einen Vorschlag. Sie kennt "leiblich[e] Regungen"9, die in ihrer Gesamtheit den Leib bilden.10

Schon in der klassischen Phänomenologie in der Tradition Husserls ist der Leib als gelebter (erfahrener) Körper im Gegensatz zum physiologischen, wissenschaftlich beschriebenen Körper gedacht11; die Neophänomenologie grenzt dies noch schärfer ab. Leibliche Regungen werden als innerliche Wahrnehmungen verstanden. Solche Regungen sind zwar "in der Gegend" des Körpers spürbar, aber nicht durch die gewöhnlichen "fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken)" abbildbar.12 Gleichwohl liegen sie nicht im Reich der Esoterik, sondern sind alltäglich erfahrbar, z.B. dann, wenn wir in einem Raum eine "drückende Stimmung" wahrnehmen oder wenn wir beim Betreten eines englischen Landschaftsgartens "befreiende Weite" verspüren.

Zweifellos vorhandene Regungen, die durch die fünf Sinne nicht abgedeckt werden, sollen nicht einfach beiseite gewischt13, sondern ernst genommen werden.14

Zwar sind auch leibliche Regungen nicht losgelöst vom Körper zu betrachten15: Wenn etwa bei bildender Kunst und Architektur behauptet wird, dass sichtbare Linien und Rundungen leibliche Regungen verursachen können16, dann ist das Sehen die Voraussetzung, diese Formen überhaupt wahrzunehmen. Doch die Wirkung der gesehenen Formen auf das leibliche Empfinden des Individuums in seiner jeweiligen "leiblichen Disposition"17 kann durch den körperlichen Sinn nicht erklärt werden, und auch komplexere naturwissenschaftliche Modelle gehen daran vorbei.

Das Versprechen der Neuen Phänomenologie ist es, für leibliche Regungen ein Beschreibungsinventar zu bieten. Die Ergebnisse solcher neophänomenologischer Beschreibung stehen einerseits für sich (sie verweisen darauf, dass es leibliche Regungen gibt und diese wichtig sind), sie sind andererseits oft anschlussfähig an andere Beobachtungsweisen bzw. Anwendungsfelder.18

Für den Anfang besonders leicht nachvollziehbar sind die Begriffspaare Enge/Weite, Engung/Weitung und Spannung/Schwellung. Engende Spannung finden wir z.B. im Moment des Erschreckens oder starker Konzentration; weitende Schwellung bei der auf das Erschrecken folgenden Erleichterung oder wenn eine Konzentration erfordernde Aufgabe erfolgreich beendet ist.

Ebenfalls hilfreich ist das Begriffspaar epikritisch/protopathisch. Epikritisch kann als "ortsfindend"19, zuspitzend übersetzt werden; protopathisch als "ortsauflösend"20, diffundierend. Epikritisch sind z.B. pieksende gut lokalisierbare Schmerzen, harte Kanten und spitze hohe Schreie; protopathisch sind z.B. dumpfe schwer lokalisierbare Schmerzen, weite Rundungen und vibrierende tiefe Klänge. Die Kategorie der Richtung kann die vorigen Begriffspaare näher bestimmen, z.B. entsteht eine Spannung erzeugende Engung, wenn etwas Bedrohliches dem Leib epikritisch zugewandt ist, aber auch, wenn der Leib in starker Konzentration einer Sache zugewandt wird.

Auch sichtbare Linienführungen in Kunst und Architektur können durch ihre Richtung engend und weitend wirken. Formen können zudem Bewegungseindrücke nahelegen (Bewegungssuggestionen). Das Wechselspiel aus Engung und Weitung, im atmosphärischen Zusammenhang von Formen, Bewegung und Rhythmus, zeigt, wie dynamisch alltägliches Erleben eigentlich ist. Darum erscheinen statische Vorstellungen des Lokalen (mit deutlichem Schwerpunkt auf Abgrenzung, Kontrolle und Sicherheit, statt Offenheit, Freiheit und Überraschung nicht nur zu dulden, sondern zu begrüßen) nicht sehr lebensnah.