Newtons instabiles Universum

Seite 4: Big Bang und die Ausdehnung des Raumes

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Es gibt aber noch einen anderen Ausweg um den gravitatorischen Kollaps des Universums zu verhindern. Dieser besteht darin, die gewünschte Fluchtgeschwindigkeit aller Massen von der Masse "unter ihnen" durch eine Ausdehnung des Universums zu erzeugen. Wenn dies für die Leser etwas phantastisch klingt, sind sie nicht allein. Auch Einstein hat eine solche Lösung zuerst einmal als mathematisch möglich jedoch als "unphysikalisch" bezeichnet, als der russische Mathematiker Alexander Friedmann, mit den einsteinschen Gleichungen ausgestattet, sie vorschlug. Im Jahr 1922 kritisiert Einstein in der "Zeitschrift für Physik" die Lösung von Friedmann, um sich später selbst zu korrigieren.

Abb. 4 zeigt die Idee von Friedmann. Die Quadrate repräsentieren den vorhandenen Raum und die Kreise Umgebungen in denen Materie vorhanden ist. Wenn der Raum jetzt expandiert, d.h. sich ausdehnt, entfernen sich alle Massen im Universum voneinander (nehmen wir an, die Massen befinden sich an den Kreuzungspunkten des Gitters). Außerdem gibt es keine ausgezeichnete Stelle im Raum. Der rote Kreis dehnt sich in alle Richtungen aus, so wie der blaue Kreis es tut.

An allen Stellen wird dasselbe beobachtet: Die Massen, die uns umgeben, entfernen sich im Durchschnitt von uns (da sie durch Kollisionen in Bewegung sind, können natürlich einige davon "quer" fliegen). Außerdem, wenn das Universum sich gleichmäßig ausdehnt (sagen wir mal um 10%), sind Punkte, die ein Lichtjahr von uns entfernt stehen, am Ende 1,1 Lichtjahre entfernt. Punkte, die 100 Lichtjahre von uns entfernt sind, stehen danach 110 Lichtjahre von uns weg. Da sich in derselben Zeit die entfernteren Punkte weiter als die näheren entfernt haben, beobachten wir sie in Bewegung mit immer größeren Geschwindigkeiten, je weiter weg sie von uns sind. D.h. das Gesetz von Hubble wird durch eine solche Konstruktion automatisch erfüllt.

Abb. 4: Ausdehnung des Raumes in drei Schritten. Lokal, d.h., an jedem Punkt, entfernen sich alle Objekte im Raum voneinander. Der Radius der Kreise um zwei Punkte im Raum, z.B., wird um dieselbe Proportion größer.

Das Problem mit der Kosmologie von Newton ist, dass Zeit und Raum absolut sind. Materie bewegt sich in diesem absoluten Raum und so etwas wie eine "Ausdehnung des Raumes" ist unvorstellbar. In der einsteinschen Gravitationstheorie hingegen sind Raum/Zeit und Energie/Materie intrinsisch verbunden: Materie und Energie bedingen, krümmen, strecken, wenden und kneten den Raum und die Zeit, während Raum und Zeit inertiale Bahnen für die Bewegung der Materie vorschreiben. Die von Friedmann vorgeschlagene Ausdehnung des Raumes ist eine mögliche Lösung der Einstein-Gleichungen in einem Universum, wo Materie homogen verteilt ist (wie es im Universum im großen Maßstab geschieht, als ob es ein Gas wäre).

Die sogenannte Friedmann-Gleichung beschreibt die angesprochene Lösung der Einsteinschen Gleichungen, man kann sie aber auf klassischem, Newtonschen Wege erhalten.1 Hier können wir nur das Resultat angeben. Nehmen wir an, das Universum sei gleichmäßig mit Materie gefüllt (wie eine Art Gas mit einer mittleren Dichte). Wenn wir nun eine Kugel von Radius R, von unserer aktuellen Position betrachten, so dehnt sich diese Kugel mit der Geschwindigkeit Ṙ. Die Friedmann-Gleichung sagt (in hier vereinfachter Form), dass das Quadrat der Ausdehnungsgeschwindigkeit von der Gravitationskonstanten G, der in der Kugel von Radius R eingeschlossenen Masse MR, und von der Lichtgeschwindigkeit c, gemäß der Formel

2 = 2GMR / R - kc2

abhängt (eine kosmologische Konstante betrachten wir noch nicht). Kurioserweise ist der erste Term auf der rechten Seite gerade der Ausdruck für die Fluchtgeschwindigkeit aus der Kugel R mit Masse MR!

Die Konstante k beschreibt die Geometrie des Raumes (über seine Krümmung). Für einen euklidischen flachen Raum ist k=0 und so besagt die Friedmann-Gleichung, dass wir ein dynamisches Universum erhalten können, das ewig expandiert, wenn die relativen Geschwindigkeiten aller Massen im ausdehnenden Raum den entsprechenden Fluchtgeschwindigkeiten entsprechen. Das ist gerade die Art von Fluchtgeschwindigkeiten-Verteilung, die in Abb. 2 dargestellt ist.

Die kosmologische Konstante

Moderne Messungen der Bewegungen von fernen Sternen (anhand der spektralen Rotverschiebung des Lichtes) haben gezeigt, dass das Universum nicht nur expandiert, sondern, dass die Geschwindigkeit der Raumausdehnung sogar steigt. Für den Nachweis erhielten Saul Perlmutter, Brian Schmidt und Adam Riess im Jahr 2011 den Physik-Nobelpreis. Warum dies so ist und woher die notwendige "dunkle" Energie für die beschleunigte Expansion des Raumes stammt, ist eines der wichtigsten aktuellen Probleme der Physik.

Es ist ein Paradoxon, dass Einstein in seinen Gleichungen einen konstanten Term einbaute, die sogenannte kosmologische Konstante, um ein stabiles statisches Universum zu erzwingen. Heute wird die kosmologische Konstante eher herangezogen, um die Messungen von Perlmutter/Schimdt/Riess zu erklären. In der oben angegebenen Lösung von Friedmann fügt man die kosmologische Konstante positiv in einem Term auf der rechten Seite ein, und verleiht damit Ṙ2einen zusätzlichen Kick.

Fazit

Auch ohne die Einstein-Gleichungen wäre Newton imstande gewesen zu erklären, wie ein dynamisches Universum sich dem gravitatorischen Kollaps entziehen könnte: Wenn man allen Sternen mit ihren gebundenen Planeten, von einem ausgezeichneten Punkt ausgehend, ihre jeweiligen Fluchtgeschwindigkeiten relativ zum ausgezeichnetem Zentrum zuweisen würde, würden sich diese Massen für immer voneinander entfernen. Ob ein solches Universum, dem Kältetod geweiht, Newton befriedigt hätte, ist eine andere Frage.

Wie eine solche Verteilung der relativen Geschwindigkeiten erreicht werden könnte, ist im Rahmen der Vorstellung vom absoluten Raum nicht wirklich nachvollziehbar (eine gewöhnliche Explosion würde es nicht schaffen). Dass sich der Raum ausdehnt und alles mitnimmt und dabei homogen und isotrop bleibt, ist wirklich nur im Rahmen der Einsteinschen Gravitationstheorie verständlich. Gleichzeitig ist die Jagd nach der theoretischen Erklärung für die dunkle Energie und die Beschleunigung der Universums-Ausdehnung das spannendste Thema, das die moderne Physik zu bieten hat.