Nicht Werte bestimmen Merkels Politik, sondern Interessen

Seite 2: Es ist klar, auf wen Merkel eher hört

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Anfang September 2015 - also zu der Zeit von Merkels historischer Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen - , sagte Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, in Deutschland seien 500.000 Arbeitsplätze unbesetzt und mahnte eine zügige Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt an.

Die "Frankfurter Allgemeine" meldete kurz darauf sogar 570.000 unbesetzte Stellen und zitierte Wirtschaftsexperten, die die stark angewachsene Zuwanderung begrüßten. Schon im März 2015 war eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bekannt geworden, wonach bis 2050 jährlich über 500.000 Menschen mehr nach Deutschland einwandern müssten (und zwar nicht nur aus der EU), als das Land verlassen, damit die Sozialsysteme funktionieren.

Nun gibt es zwar seit Jahren eine Diskussion darüber, ob zur Besetzung der freien Stellen wirklich so viel Zuwanderung nötig ist. Gerade von gewerkschaftlicher Seite kommt da Widerspruch - schließlich gibt es hierzulande auch viele Arbeitssuchende. Doch es ist klar, auf wen Merkel eher hört: Unternehmensverbände, wachstumsfixierte Wirtschaftsforscher, Bertelsmann-Stiftung. Darauf fußte ihre Entscheidung im Spätsommer 2015, die vielen Flüchtlinge nicht pauschal an der Einreise zu hindern.

Ein paar Monate später sprach die Schweizer Beratungsfirma Prognos in einer Studie übrigens ebenfalls von einem jährlich nötigen Zuwanderungssaldo von 500.000 Menschen und verlangte von der Bundesregierung, "endlich ihre demografischen Hausaufgaben zu machen".

Doch dass Merkel aus "Kalkül", wie Nils Minkmar sagte, handelte und handelt, ist offensichtlich so manchen Journalisten zu wenig. Sie wollen die nackte ökonomistische Wahrheit in hehre Worte kleiden. Und so hat sich im Lauf der Jahre in weiten Bevölkerungsteilen der Eindruck verfestigt, die Regierung mache ständig Politik auf Grund von bloßen Werturteilen. Diese Leute sehen sich beherrscht von "Gutmenschen", die armen Ländern Geld schenken, arme Ausländer aus Gutherzigkeit aufnehmen und halt Multikulti geil finden.

Gegen solches unökonomisches Denken aufzubegehren, ist ein zentraler und rationaler Aspekt von Pegida und AfD. Wobei vermutlich gerade deshalb das Aufbegehren viel stärker als früher ebenfalls auf unökonomischen, also wertbasierten Argumenten zu beruhen scheint - sozusagen eine Zurückweisung der imaginierten Grundlage des Regierungshandelns. Während früher das Motto: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg" über vielen Protesten stand, geht es nun vor allem um kulturelle Dinge: Es wird verstärkt gegen Weltoffenheit, fremde "Kulturen" (Vergewaltiger inklusive), den Islam und die vermeintliche Multikulti-Idee, die sogenannte "Umvolkung", gehetzt.

Wir sehen ja seit zwei Jahren das traurige Schauspiel mit an, wie Rassisten, Kulturalisten und Verschwörungsgläubige mit kruden Thesen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderung hetzen, woraufhin dann Leute in Politik und Medien die Zugewanderten primär auf ihr ökonomisches Potenzial reduzieren und entgegnen: Nein, nein, das hat doch alles seinen Zweck für den Standort Deutschland! Das dringt aber zu vielen Leuten nicht mehr durch. Zu lange haben die Medien den Quatsch von der wertbasierten Politik erzählt. Das ist ihre Mitverantwortung für die vielen nun aufgehetzten Menschen, die längst die Welt nicht mehr verstehen - eine Welt, die es ja auch gar nicht gibt.

Eine für AfD und Pegida typische Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik lautet, Deutschland wirke wie ein "Hippie-Staat", der "nur von Gefühlen geleitet wird", so dass es den Anschein haben könnte, "die Deutschen haben das Gehirn verloren". Gesagt hat das allerdings der britische Politologe Anthony Glees in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 8. September 2015. Für den Sender hat er sich mit diesem Unsinn nicht blamiert - der hat ihn mit diesen Aussagen in den Nachrichten zitiert und seitdem alle paar Monate wieder interviewt.

Der Witz ist: Glees hat diese Aussagen gar nicht ernst gemeint. Das kann bei einem Politologen ausgeschlossen werden. Er wollte damit schlicht Merkels Flüchtlingsaufnahme so stark wie möglich diskreditieren (im Interview lobte er das Vorgehen der britischen Regierung). Die Leute beim Deutschlandfunk haben es allerdings für bare Münze genommen, weil dieser Unsinn zu ihrer eigenen Interpretation von Merkels Handeln passte. Es wird wirklich Zeit, dass manche Leute in diesem Land ihr Gehirn, nämlich ihre Analysefähigkeit wiederfinden.