Nicht Werte bestimmen Merkels Politik, sondern Interessen

Merkel-Raute. Bild: Armin Linnartz / CC BY-SA 3.0 DE

Wegen ihrer Unfähigkeit zur Politik-Analyse haben viele große Medien am wahrscheinlichen Wahlerfolg von Angela Merkel und dem Aufstieg der AfD einen großen Anteil

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"Die Bundeskanzlerin hat also nicht aus Gefühlen, Launen oder Kalkülen heraus gehandelt, sondern im Einklang mit den heiligen Werten des Westens." So könnte ein Abschnitt eines Schulaufsatzes über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel in den Jahren 2015 bis 2017 enden.

Im folgenden Abschnitt könnte dann ausgeführt werden, dass Merkel feststellen musste, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung die Aufnahme einer unüblich hohen Zahl von Flüchtlingen stark ablehnte. Auf die humanitäre Phase sei dann die rigide gefolgt, um das Wahlvolk nicht zu verprellen. So sei also beiden Seiten Genüge getan worden: Immerhin über eine Million Flüchtlinge wurden aufgenommen, die Deutschen aber bekamen gezeigt, dass sie trotz Weltoffenheit und Humanität der Regierung immer noch am längeren Hebel als irgendwelche Ausländer sitzen. Der Aufsatz könnte dann im Fazit den Begriff "Werteorientierung der merkelschen Realpolitik" unterbringen.

Politische Naivität

Womöglich ist so ein Unsinn schon in irgendeiner Abiturprüfung geschrieben worden, denn das scheint die gängige Interpretation der Geschehnisse zu sein. Die beiden Zitate jedenfalls hat vor einem Jahr Deutschlands größtes Wochenmagazin veröffentlicht. Im "Spiegel" 34/2016 drückte Nils Minkmar bei der Rezension des Buches "Die neuen Deutschen" von Herfried und Marina Münkler auf diese Weise seine politische Naivität aus.

Diese Naivität verwundert nicht angesichts der nationalistischen Grundierung des dreiseitigen Textes, in dem der Autor neben der üblichen Propaganda von der "westlichen Wertegemeinschaft" wiederholt über die sogenannte "nationale Identität" sowie die Frage, wer "wir" eigentlich sind, schwadroniert und sogar behauptet, die Flüchtlingsaufnahme 2015/16 habe "das kulturelle Referenzsystem der Bundesrepublik überfordert". Dabei ist Minkmar ein in der Branche sehr bekannter, sehr erfahrener und mit Preisen geehrter Kulturjournalist. In Sachen Flüchtlingspolitik ist der ehemalige FAZ-Feuilletonleiter aber offensichtlich ein Totalausfall wie so viele andere.

Laut Minkmar hat Merkel die Flüchtlinge nicht aus "Kalkül" hereingelassen. Die Kanzlerin selbst jedoch hat längst betont, dass es ihr neben angeblichen "Werten" auch um Interessen ging. In der Presse ist es leider immer noch zu wenig verbreitet, Politik als von Interessen bestimmt anzusehen. Stattdessen wird gerne den Mächtigen geglaubt, wenn diese ethische Werte oder andere gute Absichten vorschieben. Nötig wäre Analyse: Welche Interessen hatte die Kanzlerin / der Minister beim Thema X gegeneinander abzuwägen, auf wen hört sie/er dabei wohl am meisten, welche Strategie könnte sie/er nun verfolgen?

Stattdessen wird in den Redaktionen immer wieder in zentralen Angelegenheiten der Regierungsdiskurs verinnerlicht und ausgeschmückt, bisweilen mit ein bisschen Pseudo-Psychologie oben drauf. Dann wird behauptet oder zumindest nahegelegt, dass Regierungen ihre Entscheidungen aus gutem Willen oder gar wegen ethischer Überzeugungen treffen - etwas, das unser politisch-ökonomisches System erst mal ausschließt.

Das zeigt sich schon daran, dass im Grundgesetz zwar zu lesen ist, Parlamentsabgeordnete seien nur ihrem Gewissen verantwortlich. Aber ohne Fraktionszwang würde das Parlament nicht funktionieren. Nur wenn keine wichtigen ökonomischen oder strategischen Fragen berührt sind, heben die Parteioberen, die sonst die ihnen genehmen Interessen auch intern durchsetzen, den Fraktionszwang auf. Nur dann kommt es zu den wirklich freien und somit potenziell moralischen Entscheidungen, nur dann kommen die so oft beschworenen Werte zum Zuge.

"Merkel setzt auf eine protestantisch geprägte christliche Nächstenliebe"

Ein schwer zu unterbietendes Armutszeugnis in Sachen Analyse der Regierungspolitik legte schon im Oktober 2015 mit Stefan Kuzmany ebenfalls ein "Spiegel"-Mann vor. "Erst jetzt, in der Flüchtlingskrise, lernt dieses Land Angela Merkel wirklich kennen", schrieb der damalige "Leiter Meinung und Debatte" von "Spiegel Online" allen Ernstes. Alle Bücher und Recherche-Artikel über Merkel, jegliche Politikanalyse vor dem September 2015 waren also unzureichend gewesen.

Zur Überraschung Kuzmanys "setzt Merkel auf Freundlichkeit und Offenheit, auf die Pflicht zur Solidarität, man könnte auch sagen: auf eine protestantisch geprägte christliche Nächstenliebe. Seltsamerweise scheint sie damit den Linken im Lande näherzustehen als ihren eigenen Leuten, die doch die Christlichkeit im Parteinamen führen."

Schön, dass ein führender Meinungsjournalist im Jahr 2015 auch mal auf die Idee kommt, praktizierte Nächstenliebe habe vielleicht mehr mit Sozialismus als mit christlichem Glauben zu tun. Dass Deutschlands Regierungschefin im Jahr 2015 eine wichtige politische Entscheidung aus einem religiösen Grund trifft, ist für ihn aber naheliegend. Diese lächerliche Annahme wird auch gelegentlich seitens der "C"-Parteien verbreitet, weil sie sich bei unkritischen Menschen gut macht - seltsam nur, dass Merkels Politik so selten christliche oder anderweitig solidarische Motive unterstellt werden können.

Aber das fiel Kuzmany, der seit neuestem übrigens das Hauptstadtbüro von "Spiegel Online" leitet, wohl gar nicht auf. Bei seinem Loblied steigerte er sich ins Delirium: "Es mag sein, dass Angela Merkel für ihre Flüchtlingspolitik den Friedensnobelpreis bekommt oder die Kanzlerschaft verliert - oder beides. All das ist ihr offensichtlich vollkommen egal: Sie hat sich dieser gewaltigen Aufgabe verschrieben." Klar, nach so vielen Jahren auf diesem Posten ist es Merkel natürlich nicht so wichtig, weiterhin die Chefin einer der mächtigsten Regierungen der Welt zu sein, wenn sie stattdessen Menschen aus Afghanistan, arabischen Ländern und Afrika helfen kann.

Statt grundsätzlicher Kritik auf Basis der Analyse der Interessen, für die die Regierung einsteht und die hinter ihr stehen, kommt vom für die Regierung zuständigen Teil der Presse meistens eher so etwas wie Pädagogik. Antiautoritäre Pädagogik, wohlgemerkt. Die Regierung ist im Grunde nicht böse - das scheint die Ausgangsbasis dieser Art des Journalismus zu sein. Wenn es doch mal Grund zum Schimpfen gibt - Klüngeln mit der Autobranche, absehbares Verfehlen der Pariser Klimaschutz-Ziele, Waffenexporte an brutale Regime -, dann ja nicht grundsätzlich werden, sondern mit dem erhobenen Zeigefinger mahnen, dass sich das in Zukunft bessern muss.

Pädagogik will auf die Dauer aber kaum jemand ohne Lob betreiben. Dass mit Stefan Kuzmany ein ehemaliger langjähriger "Taz"-Redakteur zur eigenen Überraschung ein Merkel-Loblied erklingen ließ, passt zu der Tatsache, dass die "Taz" später eine Seite mit Artikeln von Redaktionsmitgliedern füllte, die über die Frage sinnierten, ob sie nun wegen Merkels Flüchtlingspolitik und angesichts des veränderten gesellschaftlichen Klimas auch mal CDU wählen sollten.

Erst neulich, am 29. August, hat die "Taz" zudem ein sehr langes, aber unkritisches Interview mit Merkel veröffentlicht, das in einigen Leserbriefen regelrecht zerrissen wurde. Schlimm, wenn unkritische Menschen den Job der Regierungskritik übernehmen. Deshalb, und weil Merkel nach wie vor unwählbar ist, hier mal ein paar Fakten und ein bisschen Analyse zu ihrer Flüchtlingspolitik.

Es ist klar, auf wen Merkel eher hört

Anfang September 2015 - also zu der Zeit von Merkels historischer Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen - , sagte Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, in Deutschland seien 500.000 Arbeitsplätze unbesetzt und mahnte eine zügige Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt an.

Die "Frankfurter Allgemeine" meldete kurz darauf sogar 570.000 unbesetzte Stellen und zitierte Wirtschaftsexperten, die die stark angewachsene Zuwanderung begrüßten. Schon im März 2015 war eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bekannt geworden, wonach bis 2050 jährlich über 500.000 Menschen mehr nach Deutschland einwandern müssten (und zwar nicht nur aus der EU), als das Land verlassen, damit die Sozialsysteme funktionieren.

Nun gibt es zwar seit Jahren eine Diskussion darüber, ob zur Besetzung der freien Stellen wirklich so viel Zuwanderung nötig ist. Gerade von gewerkschaftlicher Seite kommt da Widerspruch - schließlich gibt es hierzulande auch viele Arbeitssuchende. Doch es ist klar, auf wen Merkel eher hört: Unternehmensverbände, wachstumsfixierte Wirtschaftsforscher, Bertelsmann-Stiftung. Darauf fußte ihre Entscheidung im Spätsommer 2015, die vielen Flüchtlinge nicht pauschal an der Einreise zu hindern.

Ein paar Monate später sprach die Schweizer Beratungsfirma Prognos in einer Studie übrigens ebenfalls von einem jährlich nötigen Zuwanderungssaldo von 500.000 Menschen und verlangte von der Bundesregierung, "endlich ihre demografischen Hausaufgaben zu machen".

Doch dass Merkel aus "Kalkül", wie Nils Minkmar sagte, handelte und handelt, ist offensichtlich so manchen Journalisten zu wenig. Sie wollen die nackte ökonomistische Wahrheit in hehre Worte kleiden. Und so hat sich im Lauf der Jahre in weiten Bevölkerungsteilen der Eindruck verfestigt, die Regierung mache ständig Politik auf Grund von bloßen Werturteilen. Diese Leute sehen sich beherrscht von "Gutmenschen", die armen Ländern Geld schenken, arme Ausländer aus Gutherzigkeit aufnehmen und halt Multikulti geil finden.

Gegen solches unökonomisches Denken aufzubegehren, ist ein zentraler und rationaler Aspekt von Pegida und AfD. Wobei vermutlich gerade deshalb das Aufbegehren viel stärker als früher ebenfalls auf unökonomischen, also wertbasierten Argumenten zu beruhen scheint - sozusagen eine Zurückweisung der imaginierten Grundlage des Regierungshandelns. Während früher das Motto: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg" über vielen Protesten stand, geht es nun vor allem um kulturelle Dinge: Es wird verstärkt gegen Weltoffenheit, fremde "Kulturen" (Vergewaltiger inklusive), den Islam und die vermeintliche Multikulti-Idee, die sogenannte "Umvolkung", gehetzt.

Wir sehen ja seit zwei Jahren das traurige Schauspiel mit an, wie Rassisten, Kulturalisten und Verschwörungsgläubige mit kruden Thesen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und Zuwanderung hetzen, woraufhin dann Leute in Politik und Medien die Zugewanderten primär auf ihr ökonomisches Potenzial reduzieren und entgegnen: Nein, nein, das hat doch alles seinen Zweck für den Standort Deutschland! Das dringt aber zu vielen Leuten nicht mehr durch. Zu lange haben die Medien den Quatsch von der wertbasierten Politik erzählt. Das ist ihre Mitverantwortung für die vielen nun aufgehetzten Menschen, die längst die Welt nicht mehr verstehen - eine Welt, die es ja auch gar nicht gibt.

Eine für AfD und Pegida typische Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik lautet, Deutschland wirke wie ein "Hippie-Staat", der "nur von Gefühlen geleitet wird", so dass es den Anschein haben könnte, "die Deutschen haben das Gehirn verloren". Gesagt hat das allerdings der britische Politologe Anthony Glees in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 8. September 2015. Für den Sender hat er sich mit diesem Unsinn nicht blamiert - der hat ihn mit diesen Aussagen in den Nachrichten zitiert und seitdem alle paar Monate wieder interviewt.

Der Witz ist: Glees hat diese Aussagen gar nicht ernst gemeint. Das kann bei einem Politologen ausgeschlossen werden. Er wollte damit schlicht Merkels Flüchtlingsaufnahme so stark wie möglich diskreditieren (im Interview lobte er das Vorgehen der britischen Regierung). Die Leute beim Deutschlandfunk haben es allerdings für bare Münze genommen, weil dieser Unsinn zu ihrer eigenen Interpretation von Merkels Handeln passte. Es wird wirklich Zeit, dass manche Leute in diesem Land ihr Gehirn, nämlich ihre Analysefähigkeit wiederfinden.