Nicht der Mensch mordet, sondern sein Gehirn
Die Hirnforschung provoziert den Rechtsstaat
Nicht der Mensch mordet, sondern sein Gehirn. Das behaupten seit einiger Zeit führende deutsche Neurowissenschaftler. Unser freier Wille sei in Wirklichkeit nur eine Illusion, die uns unser Gehirn vorspielt, sagt Gerhard Roth, Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen. Schon vor unserem subjektiven Entschluss, etwas zu tun, habe das Hirn sich bereits dafür entschieden. Deshalb könne bei Verbrechen nicht mehr einfach von Schuld gesprochen werden.
Ein Mörder habe sich zum Mord entschieden, "weil er mit einem Gehirn ausgestattet ist, das in diesem Moment so entscheiden konnte und nicht anders", meint auch sein Forscherkollege Wolf Singer, Direktor am Max Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Die Hirnforscher fordern deshalb eine Änderung des Strafrechts: Da unser Verhalten nicht von selbstbestimmten Entscheidungen, sondern vom limbischen System abhänge, "muss im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden", fordert Roth in einem Beitrag für die Zeitschrift Information Philosophie. Wer von Genen und Neuronen gesteuert werde, sei nicht schuldfähig.
Zwischen den drastischen Thesen der Neurowissenschaftler und ihren Forschungsergebnissen besteht allerdings ein auffälliges Missverhältnis: Wie das Gehirn arbeitet, "verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen", schrieben elf führende Hirnforscher 2004 in einem Manifest. Dennoch behaupteten sie, in Zukunft werde man "widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen", da sie auf biologischen Prozessen beruhten. Deshalb müsse es darum gehen, "ein neues Menschenbild zu entwerfen".
Die Neurowissenschaften beanspruchen damit die Deutungsmacht auf einem traditionell geisteswissenschaftlichen Gebiet. "Wenn wir Aussagen zur Willensfreiheit machen, wenden wir das konzeptuelle Werkzeug aus unseren Labors auf ursprünglich philosophische Fragestellungen an - und kommen dabei erstmals zu naturwissenschaftlich untermauerten Antworten", unterstreicht Singer seine Thesen.
Psychologen kritisieren den Bilder-Glauben der Hirnforschung
Dagegen regt sich jetzt jedoch Widerstand: Führende Psychologen gaben im Juni diesen Jahres ein Manifest heraus, das als Standortbestimmung gegenüber der Hirnforschung gedacht ist. Sie korrigieren darin den Eindruck, die Neurowissenschaften "könnten einen besser fundierten Zugang zum Verständnis psychischer Prozesse anbieten".
Zentraler Kritikpunkt sind dabei neue bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), der die Hirnforschung wesentlich ihren Erfolg verdankt. Damit kann zum Beispiel gezeigt werden, dass es an einer bestimmten Stelle im Frontalhirn funkt, wenn man an ein mathematisches Problem denkt. "Wir dürfen die Messung von Gehirnaktivität nicht mit kausalen Erklärungen psychischer Leistungen verwechseln", geben die sechs Psychologen zu bedenken. Es reiche nicht aus zu wissen, in welchen konkreten Hirnregionen sich etwas abspielt, um zu erklären, wie das geschieht. Liebe lasse sich nicht aus biochemischen Prozessen erklären.
Die Provokation des Rechtsstaats durch die Hirnforschung
Insgesamt handelt es sich aber nicht um eine akademische Diskussion: Hirnforscher wie Singer und Roth leiten aus ihren Forschungen handfeste Konsequenzen für Rechtsprechung und Erziehungssystem ab. Im Manifest der Hirnforschung sprechen sie Klartext: In Zukunft würden sie in der Lage sein, "psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen, aber auch Verhaltensdispositionen zumindest in ihrer Tendenz vorauszusehen - und "Gegenmaßnahmen" zu ergreifen."
Was das konkret bedeutet, wurde auf einer Tagung der Bielefelder Fakultät für Rechtswissenschaft diskutiert: Sollen neurobiologische Diagnosen darüber entscheiden, ob verurteilte Gewalttäter erfolgreich therapiert wurden und entlassen werden können? Die Verkündungen der Hirnforscher führen also auch im kriminologischen Denken zu einer Verschiebung: Hirnforscher Gerhard Roth fordert sogar, Menschen mit "krankem Hirn" aufgrund neuropsychologischer Tests präventiv in Gefängnissen oder Psychiatrien wegzuschließen, obwohl sie keine Straftat begangen haben. So war es jedenfalls im Mitte September in der ARD ausgestrahlten Dokumentarfilm "Der Sitz des Bösen" von Tilman Achtnich zu vernehmen.
Mit solchen Forderungen stellen die Neurowissenschaften das bundesrepublikanische Rechtssystem auf den Kopf. Wenn Menschen aufgrund neurobiologischer Diagnosen hinter Schloss und Riegel gebracht werden können, widerspricht dies grundlegenden straf- und verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien. Dazu gehören etwa die Unschuldsvermutung und das Verbot der Doppelbestrafung. Außerdem muss der Freiheitsentzug in einem Gerichtsurteil beschlossen werden.
Eine Abkehr vom strafrechtlichen Schuldprinzip gibt es aber bereits heute mit der so genannten "Sicherheitsverwahrung". Sie betrifft vor allem Wiederholungstäter, die auch nach Verbüßen ihrer regulären Haft weiterhin in Gewahrsam bleiben, wenn ein psychiatrisches Gutachten eine weitere schwere Straftat in Freiheit voraussagt. Dieser "Risikogruppe" wird der Bürgerstatus aberkannt.
Die Forderungen der Neurowissenschaftler treiben diese Psychiatrisierung des Rechtssystems voran. Brisant sind an dieser Quarantäne-Politik vor allem zwei Dinge: Bisher war es nur innerhalb der psychiatrischen Systems möglich, den "Wahnsinnigen" zu internieren, um ihn von seinem Handeln abzuhalten. Wenn diese Entmündigungsmacht der Medizin auf das allgemeine Strafrecht ausgedehnt wird, wird der Ausnahmezustand zur Regel. Zweitens werden der Medizin prophetische Fähigkeiten zugesprochen: Sie nimmt eine Tat vorweg, die noch gar nicht begangen wurde. Ein uraltes Weltbild lebt wieder auf, das den Menschen auf das Gehirn reduziert und die Ursache "abweichenden Verhaltens" in der Biologie sucht.
Renaissance einer biologisierten Kriminologie
Der Frankfurter Strafrechtler und Rechtsphilosoph Klaus Lüderssen warnt daher auch, mit der neurowissenschaftlichen Intervention in die Gesellschaft drohe ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, als die Hirnforschung ihren Anfang nahm. Damals gingen Mediziner und Strafrechtsreformer eine unheilige Allianz ein.
Schon 1876 meinte der italienische Gerichtsarzt Cesare Lombroso, den "geborenen Verbrecher" am Körperbau erkennen zu können: Ohrenform, Fingerlänge, fliehende Stirn und Schädelvolumen ließen Rückschlüsse auf die Anfälligkeit eines Menschen für kriminelles Verhalten zu. Sein Leitgedanke: Verbrechen sind biologisch bedingt. Nicht die Erziehung, Bildung und persönliche Lage des Verbrechers müssen untersucht werden, um seine Taten zu begreifen, sondern seine Biologie und Anatomie. Damit begründete Lombroso die einflussreiche Kriminalanthropologie. Gegen resozialisierende Konzepte schrieb er 1895: "Die theoretische Ethik läuft von diesen kranken Gehirnen ab wie Öl von Marmor, ohne einzudringen."
Nach Ansicht des vor drei Jahren verstorbenen Wissenschaftshistorikers Stephen Jay Gould hatten die Kriminalanthropologen um Lombroso das Ziel, "mit der modernen Wissenschaft wie mit einem Besen die Rechtsprechung von dem veralteten philosophischen Ballast des freien Willens und der uneingeschränkten sittlichen Verantwortung zu befreien." Anstelle des Verbrechens sollte die Persönlichkeit des Delinquenten zum Hauptgegenstand der Strafjustiz gemacht werden.
Nach 1945 wurden biologische Argumente zunächst aus der Kriminologie verbannt. Diese Windstille hielt aber nur zwanzig Jahre an. Schon in den sechziger Jahren brachten Humangenetiker die Legende in Umlauf, ein zusätzliches Y-Geschlechtschromosom verdamme Männer zu kriminellem Verhalten. Vor allem statistische Tricks ermöglichten die Verknüpfung der als XYY-Syndrom bekannt gewordenen Chromosomenanomalie mit Kriminalität. Heute kehrt der biologische Determinismus in den Thesen der Hirnforschung mit voller Kraft wieder: Neu ist dabei nur, dass die Zeichen der angeborenen Kriminalität nicht mehr in der Anatomie, sondern im Inneren gesucht werden: den Genen und Neuronen.