"Nicht mit der Ukraine tauschen"

Unverändert seit Sowjetzeiten: Das Nationalsymbol des Landes im Zentrum von Minsk. Foto: Martin Hoffmann

Weißrussland und Kasachstan sind die beiden Kernpartner, die Moskau für seine eurasische Zollunion gewinnen konnte. Wie sehen in Weißrussland die Sympathien oder Antipathien bezüglich der Ukraine-Krise aus?

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Wer dieser Tage in Minsk unterwegs ist, bekommt kaum den Eindruck in der "letzten Diktatur Europas" zu sein. So wird das Land spätestens seit der letzten manipulierten Präsidentschaftswahl 2010 von Menschenrechtlern genannt. Zuletzt verwendete auch der deutsche Ex-Außenminister Westerwelle im Jahre 2012 diese Wendung.

Doch der autoritäre Charakter des weißrussischen Staates erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Die Polizeipräsenz ist nicht höher als in den meisten westeuropäischen Metropolen. Auch ein Personenkult um das seit 20 Jahren autokratisch regierende Staatsoberhaupt Alexander Lukashenko mit dem Spitznamen "Batka" - Väterchen - existiert nicht. Selbst die subkulturellen Ausprägungen Westeuropas trifft man in Minsk wieder: Jugendliche mit Hipster-Vollbärten und Tattoos sind auch hier keine Ausnahmeerscheinung mehr.

Es dauert eine Weile bis erste Dinge ins Auge fallen, die auf andauernde autoritäre Kontinuität hindeuten. Vor dem Regierungsgebäude aus Stalinzeiten, welches heute das Repräsentantenhaus beherbergt, steht nach wie vor die Lenin-Statur aus Sowjetzeiten. Wer die Statur fotographiert, wird von Polizisten freundlich, aber bestimmt angewiesen, nicht auch das dahinter gelegene Regierungssgebäude zu fotographieren.

Vor einem anderem Regierungsgebäude stehen Panzer mit dem Stern der roten Armee. Und in einem repräsentativen Bau auf dem zentralen Niamiha-Boulevard liegt die Zentrale des KGB, nur ein paar Häuser neben Mc Donalds. Weißrussland ist unter den post-sowjetischen Ländern das einzige, in dem der Geheimdienst immer noch den Namen aus Sowjetzeiten trägt.

In Weißrussland scheint sich eine eigenartige Mischung aus europäischer Normalität und post-sowjetischer Kontinuität etabliert zu haben. Während der Ukraine-Krise blieb es ruhig, es kam weder zu Solidaritätskundgebungen für die Kiewer Demonstranten noch für die Linie des Kremls.

"Lukashenko ist genau der Richtige für die Menschen hier"

"Die Mehrheit der Menschen hier ist auf Seiten Russlands." sagt Irina. "Das liegt vor allem daran, dass die meisten russische Fernsehsender schauen." Die 27-jährige ist viel gereist, arbeitete drei Jahre in Moskau und einige Monate in Shanghai, war schon häufig in Westeuropa. Ihr Vater ist Geschäftsführer eines halb-staatlichen Unternehmens. Sie ist auf den in Westeuropa vorherrschenden Blick auf den Konflikt interessiert, welchen sie durch die russischen Medien nicht vermittelt bekommt.

Laut Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes IISEPS (Independent Institute for Socio-Economic and Political Studies) schauen nur 22% der Weißrussen regelmäßig ukrainische Fernsehsender. Das Meinungsbild im Land ist nach IISEPS stark vom russischen Staatsfernsehen beeinflusst.

Die dominante Sprache in Weißrussland ist russisch, im Gegensatz zur Ukraine gibt es in Weißrussland keinen Konflikt über die Amtssprache. Nur eine Minderheit der Weißrussen spricht weißrussisch zu Hause; nach Studien der Regierung sind es gerade mal 12%. Kurz nach Zusammenbruch der Sowjetunion war die Frage der Amtsprache ein größeres Politikum als heute. Teile der Unabhängigkeitsbewegung wollten Weißrussisch zur Amtssprache machen, doch Lukashenko setzte sich nach seinem Amtsantritt 1994 früh für den Erhalt des Russischen als Amtsprache ein - und bekam auch deswegen die Unterstützung Russlands.

"Lukashenko ist genau der Richtige für die Menschen hier", sagt Irina. "Die meisten wollen nicht zuviel Veränderung." Umfragen von IISEPS untermauern ihre These. In der letzten Umfrage aus dem März diesen Jahres sind die Zustimmungswerte für Lukashenko von 35 auf 40% gestiegen - was freilich immer noch weit entfernt von seinen durchschnittlichen Zustimmungswerten in den unfrei verlaufenden Präsidentschaftswahlen liegt. In diesen werden zwar andere Kandidaten zugelassen, am Ende gewann bisher aber dennoch immer Lukashenko mit Werten von um die 80%.

Stabilität statt Protest

Die Proteste auf dem Maidan in Kiew haben laut IISEPS nur bei einer Minderheit der Bevölkerung Sympathien hervorgerufen: Lediglich 20% der Befragten bekundeten Sympathien mit den Demonstranten in Kiew, 40% beurteilten die Demonstrationen eher negativ. Wenn ähnliche Demonstrationen in Weißrussland passieren würden, würden laut derselben Umfragen nur 16% der Befragten daran teilnehmen, 11% wären dagegen. Die absolute Mehrheit hingegen würde beiden Seiten fernbleiben: fast zwei Drittel der Befragten.

"Die Menschen hier wollen nicht mit den Ukrainern tauschen", sagt Irina. Sie berichtet von verarmten ukrainischen Flüchtlingen, die wegen dem Konflikt in der Ukraine über die Grenze nach Weißrussland geflohen sind. "Die meisten Weißrussen schätzen die Stabilität im Land, gerade jetzt, wo die Ukraine im Chaos versinkt."

Die weißrussische Regierung scheint in der Ukraine-Krise vor allem bedacht zu sein, keine Seite zu verprellen. Einerseits betonte Lukashenko immer wieder die historische und kulturelle Nähe Weißrusslands zu Russland, andererseits setzte er sich für die Erhaltung der territorialen Integrität der Ukraine ein.

Schmale Gratwanderung zwischen Moskau und Kiew

Lukashenkos Kalkül dahinter scheint absehbar. Würden russische Separatisten Teile der Ukraine abspalten und Russland einverleiben, könnte dieser Schritt bei russischen Ultranationalisten auch den Anspruch einer Integration Weißrussland in die Russische Föderation befeuern. Doch die Unabhängigkeit Weißrusslands gilt trotz aller Nähe zu Russland als Doktrin und Raison d'etre Lukashenkos.

Erst im juni in Minsk eröffnet: Das Museum zum Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg. Foto: Martin Hoffmann

Auch eine Mehrheit der weissrussischen Bevölkerung steht der Idee eines Staatenbundes mit Russland ablehnend gegenüber - 54% sind laut der IISEPS Umfrage vom März dagegen und nur 24% dafür.

Andererseits ist Weißrussland ökonomisch viel zu abhängig von Russland, um den Kreml herausfordern zu können. Das auf Subventionen fußende Wirtschaftsmodell des Landes würde ohne russische Finanzspritzen nicht funktionieren. Erst im Mai gewährte Moskau Weißrussland einen weiteren Kredit in Höhe von 2 Milliarden Euro.

Ein Land zwischen den Stühlen

So scheint eine politische Annäherung an die EU derzeit eher unwahrscheinlich. Nachdem Weißrussland 2009 zusammen mit der Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien und Azerbaijan in die EU-Politik der "östlichen Partnerschaft" aufgenommen wurde, haben sich die Beziehungen merklich abgekühlt. Nach der manipulierten Präsidentschaftswahl 2010 wurden Sanktionen gegen Lukashenko und seinen Führungszirkel erlassen.

Doch auch bei der Bevölkerung ist in Folge des Ukraine-Konflikt und des Einflusses russischer Medien die Zustimmung für engere Beziehungen zur EU gesunken. Im März plädierten 52% der Befragten für engere Beziehungen zu Russland und nur 33% für engere Beziehungen zur EU. Dies steht im Gegensatz zu Umfragewerten aus dem vergangenen Dezember, vor dem Beginn der Ukraine-Krise: Damals waren noch 46% für engere Bindungen an die EU und nur 36% für engere Bindungen an Russland.

Die Menschen hier teilen die selbe Kultur mit Russland", meint Irina. "Doch zugleich ist es für viele wichtig, einen Kontakt nach Europa zu haben und nach Europa reisen zu können." 90% ihrer Freunde seien im Ausland, vor allem die Kreativen und jene, die etwas erreichen wollten. In keinem anderen Land werden mehr Anträge auf Schengen-Visas gestellt als in Weißrussland.

Von staatlicher Seite gibt es keine Restriktionen der Reisefreiheit. Wer die Bedingungen für ein Schengen-Visum erfüllt, kann in die EU einreisen. Einreisebeschränkungen in die EU gelten nur für Lukashenko und dessen Führungszirkel.

Platz 157 im Index der Pressefreiheit

In der litauischen Haupstadt Vilnius erzählt Eleonora von ihrer Arbeit beim staatlichen Radiosender Radio Mir. Der Sender ist eher auf Unterhaltung und Kulturprogramm ausgerichtet, aber dennoch sei es eine vorsichtige Gratwanderung zwischen dem, was man sagen kann und dem, was man besser nicht sagen sollte, so Eleonora.

Vor allem habe ich Angst den Job zu verlieren. Wer den Job verliert, kann nur noch für oppositionelle Sender arbeiten und von denen gibt es nicht viele und sie sind unter ständiger Beobachtung der staatlichen Autoritäten.

Bei ihren Freunden, die für oppositionelle Medien, wie die Medien-Platform TUT.by oder Charter 97 arbeiten, sei die Angst freilich noch viel größer. Im privaten Rahmen oder in Blogs bleibt Regierungskritik in der Regel folgenlos, auch das Internet in Weißrussland ist unzensiert.

Doch die Regierung versucht die medialen Aktivitäten der Opposition stark einzudämmen. Im von Reporter ohne Grenzen aufgestellten Index der Pressefreiheit steht Weißrussland auf Platz 157, zwischen Swasiland und Pakistan. Damit rangiert Weißrussland noch hinter Russland, das auf Platz 148 liegt.

Eine Chance, dass sich ein Szenario wie in der Ukraine in Weißrussland wiederholen könnte, sehe sie nicht, sagt Eleonora. "Die weißrussische Bevölkerung ist ihrer Mentalität nach viel zu ruhig" meint Eleonora. "Sie wollen die relative Stabilität des Landes nicht riskieren." Das hänge auch mit dem historischen Erbe des 2.Weltkriegs zusammen, während dem ungefähr ein Drittel der damaligen Bevölkerung ums Leben kam.

Vielleicht regiert Lukashenko noch weitere 20 Jahre. Und falls es einen Umbruch geben sollte, dann wird dieser von Kreisen innerhalb des Regimes ausgehen.