Nicht nur Häuser, sondern Beziehungen
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Soziale Mischung in der Stadt ist - wieder - ein Thema
Es sind Kassandrarufe, mit denen der nördlichen Teil Neuköllns regelmäßig bedacht wird: Gewalt an der Rütli-Schule! "Arabisierung" der Sonnenallee! Hinter jeder Ecke lauern Dealer oder Jugendbanden, in vielen Großfamilien droht die Zwangsehe! Nicht zuletzt stimuliert durch Buch und Auftritt von Bürgermeister Buschkowsky wird medial das Bild einer segregierten Stadtgesellschaft gezeichnet, wobei Zuschreibungen wie Ghetto oder Parallelgesellschaft stets schnell zur Hand sind.
Wie zutreffend oder verzerrt dieses Bild auch sein mag: Es rückt immerhin eine zentrale Frage neu ins Bewusstsein, nämlich die des gesellschaftlichen Miteinanders in bestimmten Räumen. Thomas Schelling, einer der Begründer der strategischen Spieltheorie, fragte sich bereits in den 60er Jahren, warum es in großen Städten immer wieder zum Phänomen der Ghettos kommt. Warum drängen sich die Türken in "Klein-Istanbul" in Berlin, die Chinesen New Yorks in Chinatown, die Schwarzen in Harlem, anstatt sich in einem ausgewogenen Mischungsverhältnis zu assimilieren? Er entwickelte daraufhin auf einem Schachbrett das sog. "Segregationsmodell", wobei er eine Alltagsbeobachtung umsetzte: Wenn eine Spielfigur, die es gewohnt ist, inmitten von "Mitgliedern eigener Kultur" zu leben, plötzlich von mehr als drei "Fremden" direkt umgeben ist (von vier möglichen direkten Nachbarn), zieht sie in eine Gegend um, in der wiederum mindestens drei direkte Nachbarn der eigenen Kultur wohnen. Und nun das gleiche Spiel mit einer andren Ausgangslage - mit drei Ethnien (oder Kulturen oder Religionen).
Auf den ersten Blick wird deutlich, dass das Ergebnis ein völlig anderes sein wird. Höhere Ausgangsvielfalt dämmt den Segregationseffekt ein. Es kommt nun allenfalls zu vereinzelten Umzügen, denn nun sind alle Nachbarn von zwei anderen Kulturen umgeben, und die Entscheidung umzuziehen, fällt nicht mehr so einfach. In der Folge bleibt es bei einem höheren Mischungsgrad. Das Beispiel verdeutlicht erneut den Vorteil der Diversität, sprich Komplexität in der sozialen Evolution. Problematisch sind vor allem Mehrheiten-Minderheiten-Konstellationen, bei der die eine Gruppe die andere dominieren kann. In einer Umgebung mit mehr als zwei ethnischen Gruppen entwickelt sich Toleranz leichter; und es wird schwieriger, eine Gruppe zu unterdrücken bzw. auszugrenzen. Was freilich nicht gleichbedeutend ist mit einer konflikfreien Multikulturstadt.
Indes landet man automatisch beim Begriff der "Soziale Mischung". In einer oberflächlichen Verwendung wirkt er fast wie ein Konsensmaschine - dafür ist erstmal jeder. Dass diese Durchmischung einen gesellschaftlichen Mehrwert erzeugt, ist ja auch keine neue Idee. Hierzulande hat sie etwa der preußische Stadtplaner James Hobrecht - Entwerfer des Berliner Generalbebauungsplans und damit Weichensteller für die seinerzeit größte Mietskasernenstadt der Welt - schon vor 150 Jahren propagiert. Er setzte auf die wechselseitige Bildung unterschiedlicher Schichten. Und wie viele seiner Zeitgenossen versprach er sich vom Einzug des Bürgertums in die städtischen Mietshäuser eine "sittliche Schule" für die Ärmeren. Auf Neudeutsch würde man vermutlich sagen, dass die "mainstream role models" der sozialen Mittelschichten positiv auf ein sozial schwaches Umfeld wirken.
Allerdings hat der Begriff durchaus seine Unschärfen, zumal er Zustand wie Prozeß zugleich anspricht. Macht es nicht einen Unterschied, ob eine Familie mit anderen Familien anderer Hautfarbe, anderen Lebensstandards oder anderer Lebensgewohnheiten im gleichen Haus, in der gleichen Straße oder im gleichen Quartier wohnt, oder ob sie sie überhaupt erst auf dem Flur des Einwohnermeldeamtes wahrnimmt?
Weil also soziale Mischung in der Stadt etwas extrem Vielschichtiges und Facettenreiches darstellt, und weil sie dennoch - oder gerade deshalb - von enormer Bedeutung (nicht nur) für den Urbanismus ist, lohnt sich ein erneuter Blick darauf. Zumal die Polarisierung von Stadtgesellschaften ja ein zwingender globaler Prozess zu sein scheint, der von den USA bis China, von Polen bis Spanien, von Dänemark bis Ägypten jeweils unterschiedliche, aber prägende Spuren in der urbanen Alltagswirklichkeit hinterlässt.
Wenn sich, wie vielerorts, ethnische und soziale Stigmatisierungen überlagern, dann mag Gegensteuerung und aktive Mischungspolitik ein probates politisches Konzept abgeben. Zumindest hierzulande wird - im Allgemeinen - eine gezielte räumliche Durchmischung angestrebt: Als Maßnahme gegen soziale Abschottung, Gewalt und Ausgrenzung. Aus der gemeinsamen Anwesenheit in einem wie auch immer gearteten Raum soll sich gleichsam ein common ground ergeben mit geteiltem Grundkonsens, gegenseitigem Verständnis und Toleranz. Doch sind diese Annahmen belastbar? Und welchen Einfluss kann die Stadtplanung darauf nehmen?
Menschen werden heute gesellschaftlich über ihre Teilhabe unter anderem an Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Politik und Familie integriert. Daran hat die Stadtgestalt auf den ersten Blick einen eher marginalen Anteil. Im Zeitalter von Internet und Hochgeschwindigkeitszügen liegt vor der Haustür ja nicht mehr unbedingt ein Kiez, mit dem man sich zwangsläufig auseinandersetzen muss, sondern möglicherweise vor allem eine Ausgangsstation für hohe räumliche Mobilität. Freilich aber gibt es Personengruppen, die aufgrund fehlender sozialer und materieller Ressourcen in ihrer räumlichen Mobilität stark eingeschränkt sind, und für die somit das Quartier eine wesentliche gesellschaftliche Teilhabechance bedeuten kann.