Nicht nur Häuser, sondern Beziehungen
Seite 2: Integration als gelingende Nachbarschaft
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Selbstredend stellen Slums und Favelas ein eindrückliches Gegenbild zur "gemischten Gesellschaft" dar. Am anderen Ende der Skala hingegen rangieren die sogenannten gated communities - ebenfalls segregierte Gebiete mit einer in sich weitgehend homogenen Bevölkerungsstruktur, wenngleich auf freiwilliger Basis (und meist mit viel Geld erkauft). Solche Quartiere und Projekte partizipieren an dem sie umgebenden Kiez, geben der Stadt aber nichts zurück. Insofern sind sie urbanistisch durchaus ein Problem, doch bieten sie vermeintlich eine Lösung. Denn der Mensch als wohnendes Individuum befindet sich in einem stetigen Spannungsfeld zwischen dem Rückzug in die Privatsphäre und der Öffnung nach außen, zwischen dem Bedürfnis nach Schutz und dem nach Kontakt, zwischen kontemplativen, auf die eigene Person konzentrierten, und kommunikativen, auf Geselligkeit oder Gemeinschaftlichkeit gerichteten Phasen. Die baulich-räumlichen Gegebenheiten von Wohnung und Umfeld sollten diesem komplizierten Wechselverhältnis Rechnung tragen. Doch wie weit ist es damit her?
Wenn es stimmt, was Brigitte Reimann in ihrem Roman Franziska Linkerhand formulierte -"Eine Architektur entwirft nicht nur Häuser, sondern Beziehungen, die Kontakte ihrer Bewohner, eine gesellschaftliche Ordnung" -, dann kommt der gezielten Intervention nach wie vor Bedeutung zu. Keineswegs aber soll damit wieder auf ein Verständnis rekurriert werden, wie es etwa einmal der soziale Wohnungsbau in Deutschland darstellte mit dem gesetzlich festgeschriebenen Ziel der Versorgung "breiter Schichten der Bevölkerung". Ein bißchen diffiziler ist die Sache schon.
Auf individueller Ebene ist die Frage der Integration diejenige nach gelingender Nachbarschaft. Denn diese bedeutet Nähe - zwar nicht notwendig persönliche Nähe, sondern zunächst nur eine räumliche. Aber auch damit muss man umgehen. Wie verhält sich die musik-affine WG zur Kleinfamilie nebenan, wie das Akademikerpaar mit seinen häufigen Soirées zur kurdischen Großfamilie gegenüber? Was passiert, wenn eine Schar fröhlicher kleiner Trampel, die im Galopp über die Flure tobt, den um seine Konzentration ringenden Einzelkämpfer in der Etage darunter in ein Nervenbündel verwandelt?
Beim Wohnen ist jeder in seinem unmittelbaren Refugium betroffen. Weil Nachbarn einander auf der Pelle sitzen, unterliegt ihre Beziehung prinzipiell einer Dynamik. Und ein ungerührtes Nebeneinander scheint eher die Ausnahme denn die Regel. Mit anderen Worten: Nachbarschaften sind augenscheinlich stabiler, wenn sie eine gewisse Homogenität aufweisen. Soziale Netzwerke erweisen sich als stärker, wenn Lebensstil und ökonomischer Status sich ähneln. Besteht die Wahl zwischen zwei Nachbarn, die während der eigenen Abwesenheit nach dem Rechten schauen, wird gewöhnlich zuerst derjenige gewählt, der dem eigenen Lebensstil näher steht.
Schon deshalb muss man sehen, dass soziale Mischung konfliktträchtig ist. Funktionierende Nachbarschaften, die sowohl das Mit- als auch das Nebeneinander zulassen, sind Ergebnis langer Prozesse und von unterschiedlich intensiv gewachsenen Sozialbezügen. Wer glaubt, dass diese Form des urbanen Lebens leicht reproduzierbar sei oder dem urbanen Leben an sich innewohne, täuscht sich. Per se ist "soziale Mischung" weder ein taugliches Instrument der Armutsbekämpfung noch stellt sie den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sicher. Solange sie nicht gesamtstädtisch gedacht und mit einer veränderten Wohlfahrts- und Sozialpolitik kombiniert wird, bleibt die Forderung nach sozialer Mischung beschränkt auf die Aufwertung einzelner Wohngegenden.
Doch all das heißt nun nicht, nichts zu tun. Eine Alternative zur "sozialen Mischung" ist nicht in Sicht. Das Dilemma jeder Gesellschaftspolitik heute ist doch, dass sie es mit selbst geschaffenen, aber oft nicht so gewollten Wirklichkeiten zu tun hat. Längst ist Politik nicht mehr - wie in der Entstehungsphase des Sozialstaates - Korrektur privatwirtschaftlich bedingter Versorgungsdefizite, sondern sie ist im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit den Folgen vorgängiger Politik. Ganz evident im Bereich des Wohnens, zumal Privatisierung und Deregulierung, aber auch die aktuelle Mietentwicklung das erodiert haben, was ein über 100 Jahre aufgebauter Bestand an gemeinnützigen Wohnungen einmal als gesellschaftliche Integrationsleistung geboten haben.
Stadtplanung also hat - immer noch oder schon wieder - eine nicht zu unterschätzende Rolle. Doch braucht sie ein Bewusstsein, dass die räumliche Durchmischung oder materielle Aufwertung von Quartieren weder von heute auf Morgen passiert noch automatisch soziale Probleme löst. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist viel zu komplex, um sie gezielt planen zu können. Gleichwohl bleibt es Aufgabe, räumliche Bedingungen zu schaffen, die notwendige oder wünschenswerte Entwicklungen eher unterstützen. Denn alle Bauten weben mit an dem Stoff, aus dem die Gesellschaft ist.