Nicht nur gut für das Klima und saubere Luft …
Ein Plädoyer für das Corona-Virus
Das SARS-CoV-2, allgemein bekannt als das neue Coronavirus, zieht mittlerweile die ganze Welt in seinen Bann. Egal ob man in Panik verfällt oder demonstrative Coolness an den Tag legt, niemand bleibt der neuen Bedrohung gegenüber gleichgültig. Je mehr wir über das Virus wissen, umso mehr kristallisieren sich harte Fakten heraus: Die Mortalität dürfte bei 0,5 bis 1 Prozent liegen, in ärmeren Ländern wohl etwas höher, sie steigt mit dem Alter und mit der Anzahl der Komorbiditäten. Täglich werden wir mit unterschiedlichen Szenarien der Infektiologen und Epidemiologen für die Zukunft konfrontiert. Der Epidemie-Forscher Christian Althaus prognostiziert in der Neuen Züricher Zeitung, dass bis zu 30 Prozent der Schweizer sich infizieren und bis zu 30.000 am Virus versterben könnten. Die Angst, durch Massenmedien verstärkt und durch die Hysterie in den sozialen Medien zusätzlich genährt, führt zur allgemeinen Verunsicherung und zu Panikreaktionen.
Als wenn das alles nicht genug wäre, sprechen auch Wirtschaftsexperten von einer "Ansteckung" der Weltwirtschaft und sie malen schwarze Szenarien an die Wand. Die Börsen sind im Abwärtstrend, der Goldpreis, ein starker Indikator für anstehende Krisen, steigt. Schon fallen Schlagworte vom Ende der Globalisierung. Insgesamt also wenig Grund für Optimismus.
Und doch möchte ich hier die Position eines Advocatus diaboli einnehmen und die positiven Aspekte der sich anbahnenden Pandemie diskutieren.
Die allgegenwärtige Virus-Angst hat die meisten dringenden Probleme der Welt in den Hintergrund rücken lassen. Das mag den führenden Politikern durchaus genehm sein, müssen sie sich nicht mehr mit dem tagespolitischen Kleinkram beschäftigen und können sich der verängstigten Bevölkerung als Macher präsentieren. Nur die Idlib-Offensive mit einer sich anbahnenden neuen Flüchtlingswelle und die Drohgebärden Erdogans, die Grenzen zur EU öffnen zu wollen, rütteln Erinnerungen an 2015 wieder wach. Die Gefahr einer unkontrollierten Migration scheint im Ranking der Ängste derzeit sogar dem Corona-Virus den Rang abzulaufen.
Coronavirus als Klima-Retter
Und dennoch, vergessen scheinen die Proteste in Hong Kong, der Krieg in Jemen oder die Klima-Katastrophe. Gerade in Bezug auf das letzte Thema beschert uns ausgerechnet das Coronavirus eine gute Nachricht. Die wortreichen politischen Diskurse über die Eindämmung der Treibhaus-Emissionen, die Ersatzthemen rund um die E-Mobilität und der politisch motivierte Aktionismus der letzten Jahre, sie alle haben nur wenige Effekte im Kampf gegen die Klimaerwärmung gezeigt.
Ganz im Gegenteil: 2019 ist wegen des zunehmenden Erdöl- und Erdgasverbrauchs der weltweite CO2-Ausstoß auf ein Rekordhoch weiter angestiegen. In Deutschland ist der Auto-Bestand 2019 um weitere 1,6 Prozent angewachsen. Ein Drittel der Neuzulassungen fiel dabei auf die großmotorigen SUVs. Auch die Zahl der internationalen Flugreisen erreichte im Vorjahr, das zehnte Jahr in Folge, einen neuen Rekordwert. 15 Prozent aller vorzeitigen Todesfälle weltweit, das bedeutet 8,8 Millionen Menschen, gehen auf Luftverschmutzung zurück, das ist mehr als durchs Rauchen. Indien und China führen alle Rankings an.
Wie die neuesten Bilder der NASA und der ESA zeigen, ist die Stickoxid-Konzentration über China seit dem Ausbruch der Corona-Epidemie drastisch zurückgegangen. Die NASA spricht von einer Reduktion dieses Treibhausgases um bis zu 30 Prozent. "Blue Skies Return to China" titelt Nikkei Asian Review. Die restriktiven Quarantäne-Maßnahmen, die über Millionen Menschen in zahlreichen Städten des Landes erlassen wurden, haben vielerorts zu einem Stillstand der Produktion und von Reisen geführt. Vor den Häfen des Landes warten unzählige Frachter auf die Beladung. Auch in Europa ist die Reisetätigkeit spürbar zurückgegangen, der Flughafen Wien meldet einen Einbruch um 10 Prozent.
Das letzte Mal hatte uns die Finanz -und Wirtschaftskrise von 2008 einen signifikanten Rückgang der Treibhausemissionen beschert. Damals sank der Baltic Dry Index, ein Frühindikator für das Volumen des Welthandels und somit für die Weltwirtschaft, auf den tiefsten Stand seit seiner Etablierung in 1985. Ich war damals gerade in Shanghai und sah beim Anflug die tausenden Frachtschiffe, die vor der Küste Chinas monatelang vergeblich auf Aufträge warteten. Fast zwanzig Jahre zuvor, 1990, führte der Zusammenbruch des Ostblocks, der eine massive Deindustrialisierung der Region mit massenhafter Verarmung und Millionen Arbeitslosen zur Folge hatte, zu einer schlagartigen Verbesserung der Luftqualität. Der "saure Regen", der den Menschen Mitteleuropas den Schlaf und die Gesundheit raubte, gehört seitdem der Vergangenheit an.
Sollte der blaue Himmel über China noch längere Zeit anhalten, könnten Statistiken - Coronavirus sei gedankt - am Ende einen Rückgang in feinstaubbedingter Sterblichkeit zeigen, der die bisher bekannten 3000 Corona-Tote bei weitem übersteigt.
Es scheint also, dass Verschnaufpausen für unseren Planeten ausschließlich außergewöhnlichen und von Seiten der Regierenden zumeist unerwünschten Phänomenen geschuldet sind. Sie sind auch von nur kurzer Dauer und führen keinesfalls zu einer tieferen Reflexion bei den Verantwortlichen. Diese positiven Nebeneffekte werden den Apologeten des derzeitigen und einzig gangbaren, wachstumsfixierten Wirtschaftssystems nicht zu denken geben, der Status quo ante wird mit allen Mitteln rasch wiederhergestellt werden.
Die massive Kapitalvernichtung auf den Börsen, deren Zeugen wir gerade sind, wird der Wirtschaft nach Beendigung des Ausnahmezustands möglicherweise sogar einen neuen Schub geben. Greta Thunberg wird sich nicht in vorzeitigen Ruhestand begeben können. Aber schließlich besser eine kurze Verschnaufpause als gar keine.
Die Globalisierung ist nicht tot
Die weltweite Gefahr wird die internationale Gemeinschaft zu mehr Kooperation veranlassen. Der wesentlich offenere Informationsaustausch und Umgang der chinesischen Behörden mit der Epidemie als noch zur Zeit des SARS- und H5N1-Ausbruchs zeigen, dass die Weltgemeinschaft zur Zusammenarbeit verurteilt ist und dass wir alle von gleichen Gefahren bedroht werden.
Die Epidemie wird allen Unkenrufen zu trotz der chinesischen Führung nichts anhaben. Die Bevölkerung ist mit den Maßnahmen größtenteils einverstanden und bei ihrer Umsetzung kooperativ. Die Abkühlung der Wirtschaft, die bereits vor dem Ausbruch des Coronavirus eingesetzt hatte, wird die Führung in Peking geschickt mit den von ihr nicht beeinflussbaren Umständen erklären und die Kontrolle über ihre Bürger, Stichwort Sozialkreditsystem, das nun auch Beachtung von Hygienevorschriften beinhalten könnte, sogar verstärken.
Das Coronavirus zeigt uns dennoch die Grenzen der weltweiten Vernetzung auf. Die chinesische Führung versucht seit einigen Jahren aus dem middle-income-trap auszubrechen. China will nicht mehr als die Billigfabrik für die ganze Welt fungieren. Ein starker Binnenmarkt mit kaufkräftigen Konsumenten soll aufgebaut und die Exportabhängigkeit abgebaut werden. Die Corona-Pandemie könnte diesen Prozess beschleunigen. Falls die Lieferengpässe durch den Stillstand des Handels mit China länger andauern, wird die Suche nach Alternativen in Europa unumgänglich werden. Auf viele unnötige Gadgets und Billigtextilien werden wir vielleicht verzichten müssen. Europäische Konsumenten werden lernen müssen, mit teureren lokalen Produkten Vorlieb zu nehmen.
Die Mädchen aus den Bars von Pattaya und Patpong werden bis zur Rückkehr der deutschen und japanischen Rentner für eine Zeitlang wieder in ihre Dörfer im Osten Thailands zurückkehren müssen. Auch die Sprösslinge chinesischer Mittelklassefamilien werden auf ihre einwöchigen Selfie-Touren durch Europa vorerst verzichten müssen. Die ökologisch und wie sich nun zeigt auch epidemiologisch bedenkliche Kreuzfahrtindustrie wird einen Dämpfer erfahren. Zumindest kurzfristig werden die Bewohner der von Overtourism geplagten Städte aufatmen können.
Preparedness stärken
Die laufend aktualisierten wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass das neue Coronavirus weniger gefährlich ist, als ursprünglich befürchtet wurde. Die Maßnahmen, die in entwickelten Ländern getroffen wurden, könnten in einem Jahr möglicherweise als übertrieben angesehen werden. Dennoch werden wir um einige Erfahrungen reicher sein. Die Krisenpläne werden laufend überarbeitet und adaptiert. Das könnte sich für die Zukunft, wenn wesentlich virulentere Erreger, etwa MERS (Letalität bis 35 Prozent) oder SARS (Letalität von 10 Prozent) auftauchen sollten, als nützlich erweisen. Wie der Infektiologe Prof. Wolfgang Graninger aus Wien es ausrückte: Die verantwortlichen Behörden sollten dem Coronavirus für diesen Probegalopp dankbar sein.
Schließlich könnte auch die Bevölkerung, sofern sie aus dieser Erfahrung die richtigen Schlüsse zieht und sich nicht von Verschwörungstheorien und Mythen der sozialen Netzwerke leiten lässt, aus der Corona-Geschichte wertvolle Lehren ziehen. Die Auseinandersetzung mit möglichen Gefahren wird bei vielen zu Reflexionen über die Prioritäten im eigenen Leben, zu Gedanken und Gesprächen über mögliche Eventualitäten führen. Schon immer rieten Spezialisten für Krisenvorsorge dazu, für Katastrophen und Krisenzeiten vorbereitet zu sein. Endlich wird ihnen Gehör geschenkt. Es bleibt schließlich zu hoffen, dass sich die Impfbereitschaft gegen saisonale Viruserkrankungen wie die Influenza und eines Tages wohl auch gegen SARS-CoV-2 stark erhöhen wird.
Das kleine Virus hat das Potential zu vielen positiven Änderungen. Es liegt an uns, ob wir es zulassen oder nach seiner Ausrottung zum business as usual zurückkehren. In diesem Sinne: Jedes Böse bringt sein Gutes.