"Noch immer nicht in der deutschen Erinnerungskultur angekommen"

Seite 2: Neuer NS-Opferverband vor der Gründung

Es ist im Wesentlichen Frank Nonnenmachers Verdienst, diese beiden NS Opfergruppen dem völligen Vergessen entrissen zu haben.

Und ganz zu Recht kritisiert er vor allem auch deren bis heute übliche Bezeichnung als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" auch in Anführungszeichen:

Es gibt keine Menschen, die kriminelle Anlagen in ihren Genen haben, wie die Nazis glauben, und deshalb vernichtet werden müssen, es gibt keine "Asozialen" und "Berufsverbrecher" – das ist Nazi-Jargon und spricht den Betroffenen ihre Würde ab.

Frank Nonnenmacher

Treffender sei es, von sozialrassistisch Verfolgten oder gleich von Verleugneten zu sprechen.

Zu verdanken haben die Verleugneten Nonnenmachers umtriebiges Engagement eine eigene mittelbare Betroffenheit: die Deportation seines Onkels 1941 in ein Konzentrationslager. Ernst Nonnenmacher wuchs mit der alleinerziehenden Mutter in Stuttgart in ärmlichsten Verhältnissen auf:

Es war klar, dass man, um zu überleben, ab und zu mal etwas organisieren musste, hier mal ein paar Lebensmittel aus der Markthalle und dort mal ein Stück Wäsche von der Leine", charakterisiert der Sozialwissenschaftler die Verhältnisse nach dem ersten Weltkrieg. Von 1939 bis 1941 verbüßte Nonnenmacher in Mannheim eine Haftstrafe und saß diese bis zum letzten Tag ab.

Unmittelbar danach deportierte ihn die Kriminalpolizei in ein Konzentrationslager. "Die SS steckte ihn in einen Steinbruch zur Vernichtung durch Arbeit. Aber er hatte Glück, weil die SS auch noch jemand benötigte, der Körbe flechten konnte. Dank dieser leichteren Arbeit überlebte mein Onkel die sogenannte Vorbeugehaft im KZ.

Frank Nonnenmacher

Nach der Befreiung beantragte Ernst Nonnenmacher, genau wie andere Überlebende der Vernichtungshaft, als NS Opfer anerkannt zu werden und eine Entschädigung für die zu Unrecht und stets in Lebensgefahr verbrachte Zeit im KZ zu erhalten: beides vergeblich.

Denn für die Behörden saß er, dank des außerordentlich restriktiv formulierten Opferentschädigungsgesetztes, nicht zu Unrecht im KZ: schließlich war er weder aus politischen noch aus "rassischen" Gründen verhaftet worden.

"Fast alle Opfergruppen haben nach 1945 Verbände gegründet und für ihre Anerkennung gekämpft und waren damit, wenn auch teilweise erst beschämend spät, erfolgreich. Auch die Verfolgung Homosexueller war bis 1994 nicht als Unrecht anerkannt", so der Politikdidaktiker weiter.

Zusammen mit ein paar jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern richtet Nonnenmacher 2018 einen öffentlichen Appell an den Bundestag, die Verleugneten endlich als NS-Opfer anzuerkennen.

Einstimmig, nur AfD enthielt sich

Dieser Appell führte zu einem von Regierung und Opposition einstimmig verabschiedeten Beschluss – nur die AfD enthielt sich – und seit dem 13. Februar 2020 sind nun endlich auch die Verleugneten als Verfolgte anerkannt (Bundesdrucksache 19/14342 vom 22. Oktober 2019)

Desaströs aber ist, dass diese Anerkennung viel zu spät kam, so spät, dass niemand mehr eine Entschädigung erhielt und ganz zu Recht bewertet es Aktivist Nonnenmacher als: "zynisch, dass die Bundesrepublik sich durch das lange Zuwarten viel Geld gespart hat".

Nicht weniger verletzend sei, dass die im Bundestagsbeschluss geforderten Finanzmittel zur Erforschung von Biografien aus dieser Gruppe von Verfolgten bis heute nicht zur Verfügung gestellt würden.

Des Weiteren existiere bis heute kein Budget für eine genauere Untersuchung der Rolle von Verfolgungsinstanzen, wie zum Beispiel der Kriminalpolizei, die, anders als die Gestapo, die für die Deportationen der politischen Gegnern des Regimes zuständig war, die Deportationen der sozialrassistisch Verfolgten übernahm.

Diese erschreckende Bilanz legt es nahe, es nicht länger in die Hand von Einzelnen zu legen, ob die seit drei Jahren nun endlich als NS Opfergruppe Anerkannten auch zu einem integralen Teil unserer Erinnerungskultur werden.

Deshalb gründen Nonnenmacher, die Grünen Politikerin Ines Eichmüller – die Häftlingsuniform ihres Großvaters hatte ein schwarzes Dreieck – und weitere Nachkommen von sozialrassistisch Verfolgten im Januar in Nürnberg den Verband der Nachkommen von Verleugneten.

Verband der Nachkommen von Verleugneten

Diese Interessengemeinschaft wird nicht allein bei der eigenen familiengeschichtlichen Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, sondern, so unterstreicht Nonnenmacher zu Recht, "soll auch nach außen wirken und als Kritiker halbherzig ausgeführter Bundestagsbeschlüsse, als Stimme, die im nationalen Gedenken zwar keine Hauptrolle spielt, aber dennoch präsent seien sollte, zum Beispiel als ansprechbare Institution in der historisch-politischen Bildung und als Kooperationspartner für andere Verfolgtenverbände".

Eine Namensliste der Angehörigen und Nachkommen der Verleugneten existiert leider nicht.

Deshalb sind die Verbandsgründer darauf angewiesen, dass Menschen, die an der Gründung eines solchen Verbandes interessiert sind, sich bei fnoma@gmx.de melden.

Hier erhalten Sie auch weitere Informationen zur Gründung, die am 21./22. Januar 2023 in Nürnberg erfolgen wird, damit, wie es der Sozialwissenschaftler treffend formuliert, "dieses wichtige Thema endlich auch ankommt in der deutschen Erinnerungskultur".

Für einen ersten Überblick:

Hörath, Julia: "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2017

Köchl, Sylvia: "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne". Mandelbaum Verlag, Wien 2016

Kranebitter, Andreas: Die Konstruktion von Kriminellen. Die Inhaftierung von "Berufsverbrechern" im KZ Mauthausen. New Academic Press, Wien (in Vorbereitung)

Lieske, Dagmar: Unbequeme Opfer? "Berufsverbrecher" als Häftlinge im KZ Sachsenhausen. Metropol Verlag, Berlin 2016

Nonnenmacher, Frank: DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. VAS, Bad Homburg 2014

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