"Noch immer nicht in der deutschen Erinnerungskultur angekommen"

In den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten wurden "Asoziale" mit einem schwarzen und "Berufsverbrecher" mit einem grünen Dreieck gekennzeichnet.

Sozialrassistische Verfolgung in Nationalsozialismus. "Asoziale" und "Berufsverbrecher" sind bis heute fast vergessene Opfer. Vor welchen Herausforderungen die Aufarbeitung steht.

Mal wieder richtig durchgreifen und aufräumen, das Verbrechen an seiner Wurzel packen, die Verbrecher ausmerzen und eine kriminalitätsfreie Deutsche Volksgemeinschaft gründen.

Mit diesen und ähnlichen Parolen erhielten die Nationalsozialisten auch die Zustimmung von Personen, die ihnen anfangs vielleicht noch fernstanden. Und auch in Teilen der postnationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" haben sie bis heute Konjunktur.

Unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung verfolgten die Nazis ab 1933 nicht allein politisch und "rassisch" Unerwünschte – und wer kriminell ist, bestimmten sie selbst. Wer wegen eines Bagatelldeliktes, etwa Ladendiebstahl, Wäschediebstahl von einer Wäscheleine, oder auch Untreue, mehr als zweimal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und diese Strafe abgesessen hatte, den deportierte die Kriminalpolizei unmittelbar in ein Konzentrationslager.

Grüne und schwarze Winkel

Das gleiche Schicksal traf auch andere sozial Deklassierte, etwa Bettler, Landstreicher, Wohnungslose, Alkoholkranke und Wanderarbeiter. Erstere erhielten einen grünen Stoffwinkel auf ihrer Häftlingsuniform und wurde damit als "Berufsverbrecher" gekennzeichnet, letztere erhielten einen schwarzen Winkel und waren damit als "asozial" stigmatisiert.

Es gehörte zur nationalsozialistischen Grundauffassung, dass jemand, auch ohne "Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher" zu sein, allein durch sein "asoziales Verhalten" die Allgemeinheit gefährdet. So formulierte zum Beispiel Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, in einem Erlass, dass, "das Verbrechertum im Asozialen seine Wurzeln hat und sich fortlaufend aus ihm ergänzt". Die Polizei verhaftete Bettler direkt von der Straße weg und holte die Obdachlosen aus den Asyl-Unterküften.

Als Rechtsgrundlage hierfür diente das am 24. November 1933 erlassene "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" (Gewohnheitsverbrechergesetz). Vorbestrafte Menschen erhielten nun ohne richterliches Urteil und zeitlicher Begrenzung eine unbefristete Sicherungsverwahrung (SV) in einem Konzentrationslager, "wenn die öffentliche Sicherheit dies erforderte".

Die in Deutschland bis heute angewendete SV basiert auf dem Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 und war in den letzten Jahren wiederholt Anlass für öffentliche Debatten.

"Aktion Arbeitsscheu Reich"

Im Rahmen der "Aktion Arbeitsscheu Reich" im Jahr 1938 kam es zur Verhaftung von mehr als 10.000 Menschen. Betroffen waren nicht allein Alkoholkranke, Bettler, Zuhälter und Dirnen, sondern auch, wie Heydrich in einem Schreiben auflistete:

… Personen, wenn sie keinen Willen zur geregelten Arbeit gezeigt haben (darunter fielen zum Beispiel Menschen, die mehr als einmal "grundlos" eine Arbeitsstelle abgelehnt oder unentschuldigt ihren Arbeitsplatz verlassen haben) oder straffällig geworden sind, … außerdem solche Personen, die zahlreiche Vorstrafen wegen Widerstands, Körperverletzung, Raufhandels, Hausfriedensbruch und dergleichen erhalten und dadurch gezeigt haben, daß sie sich in die Ordnung der Volksgemeinschaft nicht einfügen wollen.

Reinhard Heydrich

Damit fielen dieser Aktion auch Menschen zum Opfer, die in Arbeitsprozessen eingebunden waren, aber auf Grund von häufigem Arbeitsplatzwechsel oder Fehltagen als "arbeitsscheu" stigmatisiert wurden. Engste Kooperation zwischen Arbeitsämtern, Fürsorgestellen, Kriminalpolizei und Gestapo war für den "Erfolg" der durchgeführten Razzien unumgänglich.

Wie die historische Forschung herausgearbeitet hat, erfüllte die "Aktion Arbeitsscheu Reich" drei Hauptfunktionen: die Requirierung von neuen weiteren Arbeitssklaven für die Konzentrationslager, eine terroristische Erzwingung von Arbeitsdisziplin und kriminalpräventive "Ausjätung".

Mit Kriegsbeginn wurden die Verhaftungsaktionen immer willkürlicher und radikaler, die Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern für immer mehr Menschen zur tragischen Realität. Die Kriminalitätsbekämpfung dieser Art war populär und Reichsjustizminister Otto Georg Thierack formulierte in einem seiner Richterbriefe:

Wir wollen nach der siegreichen Beendigung des Kriegs ein gesundes und starkes Führungsvolk sein, das seine geschichtliche Mission erfüllen kann, ohne dabei durch asoziale Verbrecher gestört zu werden.

Otto Georg Thierack

"Grüne" und "Schwarze" standen in der Häftlingshierachie in den Lagern auf der untersten Stufe und es gibt zahlreiche Beispiele, aus denen sich ergibt: Die SS hat, sofern der Begriff hier überhaupt verwendet werden kann, "politische Gegner" noch eher geachtet.

Ein signifikantes Beispiel findet sich in den Aufzeichnungen von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz von Mai 1940 bis November 1943. Höß beschreibt hier unter anderem die Reaktion von Häftlingen im KZ Sachsenhausen auf gegen sie verhängte Exekutionsbefehle:

Die Kriegsdienstverweigerer und Saboteure aus politischer Überzeugung, fest, gefasst und ruhig sich in das Unabänderliche, ihr Schicksal, fügend. Die Berufsverbrecher, die wirklich Asozialen entweder zynisch frech, forsch auftretend, aber innerlich doch zitternd vor dem großen Ungewissen, oder tobend, sich wehrend, oder auch jammernd nach geistlichem Beistand.

Rudolf Höß

70.000 bis 80.000 "Berufsverbrecher" und "Asoziale" in KZs

Eine nicht gerade positive corporate identity blieb diesen Häftlingsgruppen, die historische Forschung geht von etwa 70.000 bis 80.000 Menschen, die zwischen 1933 und 1945 als "Berufsverbrecher" und "Asoziale" in die Konzentrationslager eingewiesen wurden, auch nach dem Krieg erhalten – und zwar sowohl im Nachfolgestaat des Dritten Reiches als auch in der DDR.

Drei Aspekte sind hierfür verantwortlich: Ein außerordentlich restriktiver Opferbegriff in der deutschen Entschädigungsgesetzgebung, denn eine einmalige Entschädigung auf Basis einer Härtefallregelung konnte nur beantragen, "wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist".

Sowohl die historische KZ-Forschung als auch die Darstellungen in den Gedenkstätten waren lange Zeit überwiegend durch Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge geprägt. Aber sowohl die "Grünen" als auch die "Schwarzen" organisierten sich nach der Befreiung weder in Verbänden noch publizierten sie ihre Erlebnisse und ihre Perspektiven blieben unbeachtet. Andere Opfergruppen beschrieben sie häufig negativ.

Die oben geschilderten kriminalpolitischen und kriminalpolizeilichen Konzepte und Praktiken der Nationalsozialisten galten im Nachfolgestaat des Dritten Reiches bis weit in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts nicht als nationalsozialistisches Unrecht, sondern lediglich als Fortsetzung einer regulären Kriminalpolitik.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt kommt hinzu: Beide Opfergruppen sind 70 Jahre lang von den Medien nahezu vollständig ignoriert worden. Diese Tatsache unterstreicht auch der emeritierte Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und der politischen Bildung an der Frankfurter Goethe-Universität, Frank Nonnenmacher, gegenüber Telepolis.

Es ist im Wesentlichen sein Verdienst, diese beiden NS Opfergruppen dem völligen Vergessen entrissen zu haben.

Neuer NS-Opferverband vor der Gründung

Es ist im Wesentlichen Frank Nonnenmachers Verdienst, diese beiden NS Opfergruppen dem völligen Vergessen entrissen zu haben.

Und ganz zu Recht kritisiert er vor allem auch deren bis heute übliche Bezeichnung als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" auch in Anführungszeichen:

Es gibt keine Menschen, die kriminelle Anlagen in ihren Genen haben, wie die Nazis glauben, und deshalb vernichtet werden müssen, es gibt keine "Asozialen" und "Berufsverbrecher" – das ist Nazi-Jargon und spricht den Betroffenen ihre Würde ab.

Frank Nonnenmacher

Treffender sei es, von sozialrassistisch Verfolgten oder gleich von Verleugneten zu sprechen.

Zu verdanken haben die Verleugneten Nonnenmachers umtriebiges Engagement eine eigene mittelbare Betroffenheit: die Deportation seines Onkels 1941 in ein Konzentrationslager. Ernst Nonnenmacher wuchs mit der alleinerziehenden Mutter in Stuttgart in ärmlichsten Verhältnissen auf:

Es war klar, dass man, um zu überleben, ab und zu mal etwas organisieren musste, hier mal ein paar Lebensmittel aus der Markthalle und dort mal ein Stück Wäsche von der Leine", charakterisiert der Sozialwissenschaftler die Verhältnisse nach dem ersten Weltkrieg. Von 1939 bis 1941 verbüßte Nonnenmacher in Mannheim eine Haftstrafe und saß diese bis zum letzten Tag ab.

Unmittelbar danach deportierte ihn die Kriminalpolizei in ein Konzentrationslager. "Die SS steckte ihn in einen Steinbruch zur Vernichtung durch Arbeit. Aber er hatte Glück, weil die SS auch noch jemand benötigte, der Körbe flechten konnte. Dank dieser leichteren Arbeit überlebte mein Onkel die sogenannte Vorbeugehaft im KZ.

Frank Nonnenmacher

Nach der Befreiung beantragte Ernst Nonnenmacher, genau wie andere Überlebende der Vernichtungshaft, als NS Opfer anerkannt zu werden und eine Entschädigung für die zu Unrecht und stets in Lebensgefahr verbrachte Zeit im KZ zu erhalten: beides vergeblich.

Denn für die Behörden saß er, dank des außerordentlich restriktiv formulierten Opferentschädigungsgesetztes, nicht zu Unrecht im KZ: schließlich war er weder aus politischen noch aus "rassischen" Gründen verhaftet worden.

"Fast alle Opfergruppen haben nach 1945 Verbände gegründet und für ihre Anerkennung gekämpft und waren damit, wenn auch teilweise erst beschämend spät, erfolgreich. Auch die Verfolgung Homosexueller war bis 1994 nicht als Unrecht anerkannt", so der Politikdidaktiker weiter.

Zusammen mit ein paar jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern richtet Nonnenmacher 2018 einen öffentlichen Appell an den Bundestag, die Verleugneten endlich als NS-Opfer anzuerkennen.

Einstimmig, nur AfD enthielt sich

Dieser Appell führte zu einem von Regierung und Opposition einstimmig verabschiedeten Beschluss – nur die AfD enthielt sich – und seit dem 13. Februar 2020 sind nun endlich auch die Verleugneten als Verfolgte anerkannt (Bundesdrucksache 19/14342 vom 22. Oktober 2019)

Desaströs aber ist, dass diese Anerkennung viel zu spät kam, so spät, dass niemand mehr eine Entschädigung erhielt und ganz zu Recht bewertet es Aktivist Nonnenmacher als: "zynisch, dass die Bundesrepublik sich durch das lange Zuwarten viel Geld gespart hat".

Nicht weniger verletzend sei, dass die im Bundestagsbeschluss geforderten Finanzmittel zur Erforschung von Biografien aus dieser Gruppe von Verfolgten bis heute nicht zur Verfügung gestellt würden.

Des Weiteren existiere bis heute kein Budget für eine genauere Untersuchung der Rolle von Verfolgungsinstanzen, wie zum Beispiel der Kriminalpolizei, die, anders als die Gestapo, die für die Deportationen der politischen Gegnern des Regimes zuständig war, die Deportationen der sozialrassistisch Verfolgten übernahm.

Diese erschreckende Bilanz legt es nahe, es nicht länger in die Hand von Einzelnen zu legen, ob die seit drei Jahren nun endlich als NS Opfergruppe Anerkannten auch zu einem integralen Teil unserer Erinnerungskultur werden.

Deshalb gründen Nonnenmacher, die Grünen Politikerin Ines Eichmüller – die Häftlingsuniform ihres Großvaters hatte ein schwarzes Dreieck – und weitere Nachkommen von sozialrassistisch Verfolgten im Januar in Nürnberg den Verband der Nachkommen von Verleugneten.

Verband der Nachkommen von Verleugneten

Diese Interessengemeinschaft wird nicht allein bei der eigenen familiengeschichtlichen Aufarbeitung eine wichtige Rolle spielen, sondern, so unterstreicht Nonnenmacher zu Recht, "soll auch nach außen wirken und als Kritiker halbherzig ausgeführter Bundestagsbeschlüsse, als Stimme, die im nationalen Gedenken zwar keine Hauptrolle spielt, aber dennoch präsent seien sollte, zum Beispiel als ansprechbare Institution in der historisch-politischen Bildung und als Kooperationspartner für andere Verfolgtenverbände".

Eine Namensliste der Angehörigen und Nachkommen der Verleugneten existiert leider nicht.

Deshalb sind die Verbandsgründer darauf angewiesen, dass Menschen, die an der Gründung eines solchen Verbandes interessiert sind, sich bei fnoma@gmx.de melden.

Hier erhalten Sie auch weitere Informationen zur Gründung, die am 21./22. Januar 2023 in Nürnberg erfolgen wird, damit, wie es der Sozialwissenschaftler treffend formuliert, "dieses wichtige Thema endlich auch ankommt in der deutschen Erinnerungskultur".

Für einen ersten Überblick:

Hörath, Julia: "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2017

Köchl, Sylvia: "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne". Mandelbaum Verlag, Wien 2016

Kranebitter, Andreas: Die Konstruktion von Kriminellen. Die Inhaftierung von "Berufsverbrechern" im KZ Mauthausen. New Academic Press, Wien (in Vorbereitung)

Lieske, Dagmar: Unbequeme Opfer? "Berufsverbrecher" als Häftlinge im KZ Sachsenhausen. Metropol Verlag, Berlin 2016

Nonnenmacher, Frank: DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. VAS, Bad Homburg 2014

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