Nord-Stream: Pro-ukrainische Gruppe oder Operation unter falscher Flagge?

Das Nord Stream-Gasleck in der Ostsee, fotografiert von einem Flugzeug der schwedischen Küstenwache. Bild: Swedish Coast Guard

Medienberichte über Pipeline-Explosion werfen Fragen auf. In den USA wundern sich Analysten über das Timing nach dem Hersh-Bericht. Warum Erklärungen wie "abtrünnige Schurkentruppe" und "false flag" bisher nicht wirklich überzeugen.

Das Weiße Haus hat seine eigene Theorie über den Sabotageakt an der Nord Stream-Pipelines im September 2022.

Kelley Beaucar Vlahos ist Senior Advisor am Quincy Institute.

Aber nicht jeder, zumindest im Moment, ist davon überzeugt – einschließlich deutscher Regierungsvertreter, die von dem Bericht der New York Times vom Dienstag völlig überrascht zu sein scheinen, der besagt, dass "neue Erkenntnisse" darauf hindeuten, dass eine "pro-ukrainische Gruppe" hinter der Sabotage stecken könnte.

In einem Bericht der Deutschen Welle vom Mittwochmorgen warnte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius "vor voreiligen Anschuldigungen über die Verantwortung für die Anschläge".

Es könnte genauso gut eine Operation unter falscher Flagge gewesen sein, um der Ukraine die Schuld in die Schuhe zu schieben, eine Option, die auch in den Medienberichten auftaucht,

… sagte Pistorius im Deutschlandfunk. Unterdessen hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock "dieselbe Vorsicht geäußert und gesagt, dass die Ermittlungen der zuständigen Behörden zuerst abgeschlossen werden müssen", und am Mittwoch hinzugefügt, dass Berlin "keine voreiligen Schlüsse" ziehen werde, bevor die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft abgeschlossen seien.

In der Zwischenzeit haben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und SWR sowie Die Zeit ihre eigenen Ermittlungen durchgeführt, die die Informationen der anonymen Quellen in der NYT-Story zum Teil untermauern. Auf Taggesschau.de heißt es:

Konkret ist es den Ermittlern nach Informationen von ARD-Hauptstadtstudio, Kontraste, SWR und ZEIT gelungen, das Boot zu identifizieren, das mutmaßlich für die Geheimoperation verwendet wurde. Es soll sich um eine Jacht handeln, die von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sei, die offenbar zwei Ukrainern gehört. Die Geheimoperation auf See soll den Ermittlungen zufolge von einem Team aus sechs Personen durchgeführt worden sein. Es soll sich um fünf Männer und eine Frau gehandelt haben.

Demnach bestand die Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin, die den Sprengstoff zu den Tatorten transportiert und dort platziert haben sollen. Die Nationalität der Täter ist offenbar unklar. Die Attentäter nutzten professionell gefälschte Reisepässe, die unter anderem für die Anmietung des Bootes eingesetzt worden sein sollen.

Das Kommando soll den Ermittlungen zufolge am 6. September 2022 von Rostock aus in See gestochen sein.

Wie beim NYT-Artikel gibt es auch hier keine Bestätigung für die Nationalität der mutmaßlichen Saboteure oder Hinweise darauf, dass Präsident Selenskyj oder sein direktes Umfeld von dem Komplott wussten. Die ukrainischen Behörden haben übrigens immer wieder betont, dass ihre Regierung nichts mit den Explosionen zu tun hat.

Der NYT-Bericht kommt fast auf den Tag genau einen Monat, nachdem Symour Hersh in einem ausführlichen Artikel auf Substack seine eigene explosive Theorie entfaltete. Darin behauptet er, dass eine kleine Gruppe erfahrener Taucher der US-Marine die Explosionen heimlich im Auftrag hochrangiger Washington-Regierungsvertreter durchführte, die die Pipelines nach der russischen Invasion im Februar 2022 vom Netz nehmen wollten.

Der Bericht wurde von der US-Regierung als reine "Fiktion" zurückgewiesen und von den Mainstream-Medien insgesamt ignoriert. Interessanterweise heißt es in dem NYT-Bericht:

Die Sprengsätze wurden höchstwahrscheinlich mithilfe erfahrener Taucher angebracht, die nicht für das Militär oder den Geheimdienst zu arbeiten schienen, sagten US-Beamte, die die neuen Erkenntnisse geprüft haben. Es ist jedoch möglich, dass die Täter in der Vergangenheit eine spezielle Regierungsausbildung erhalten haben. (Eigene Hervorhebung)

Über 45 Geisterschiffe in der Ostsee

In der Recherche deutscher Nachrichtenmedien wird behauptet, dass das Boot, das für die Operation benutzt wurde, in Rostock gestartet sei. In Hershs Bericht heißt es, das Boot (ein Minensuchboot) mit den Tauchern der US-Marine sei von der dänischen Insel Bornholm in See gestochen.

Während Kritiker von Hershs Bericht einwenden, dass kein Minenräumboot, das Hershs Beschreibung entspricht, an dem fraglichen Tag auf einem öffentlich zugänglichen Radar geortet wurde, sagt die NYT Folgendes:

Nach Angaben eines Abgeordneten des Europaparlaments, der Ende letzten Jahres vom wichtigsten Auslandsgeheimdienst seines Landes informiert wurde, haben die Ermittler Informationen über schätzungsweise 45 "Geisterschiffe" gesammelt, deren Ortungstransponder nicht eingeschaltet waren oder nicht funktionierten, als sie das Gebiet passierten, möglicherweise um ihre Bewegungen zu verschleiern.

George Beebe, ehemaliger CIA-Offizier und jetziger Leiter des Programms Grand Strategy des Quincy-Instituts, stellt fest, dass der Zeitpunkt, an dem der Bericht öffentlich gemacht worden sei, viele Fragen aufwerfe.

Es kommt mir verdächtig vor, dass diese Informationen plötzlich ans Licht kommen – viele Monate nach der Tat. Das ist merkwürdig. Die Nachricht dient zudem auffällig günstig als Gegenentwurf zu Sy Hershs Bericht,

… konstatiert Beebe. "Man kann es vielleicht erklären, aber es wirft die Frage auf, woher kommt die Geschichte und warum gerade jetzt?"

Außenpolitische Analysten und Journalisten äußerten sich nach Veröffentlichung der Geschichte ähnlich. Jack Murphy, ein Veteran für militärische Spezialoperationen, Autor und Journalist, der im Dezember eine Story veröffentlichte, in der er aufdeckte, wie von der CIA unterstützte, pro-ukrainische Saboteure in Russland operieren, glaubt nicht daran, dass, wenn es sich um eine pro-ukrainische Gruppe gehandelt haben soll, die USA nichts davon gewusst haben. "Ich zerbreche mir immer noch den Kopf darüber", schrieb er auf Twitter:

Ich soll also annehmen, dass die USA die russische Militärkommunikation geknackt haben, dass wir Quellen im Kreml haben, dass wir ihnen drei Schritte voraus sind, aber ... wir haben lediglich "begrenzte Einblicke" in den Entscheidungsfindungsprozess der Ukrainer und sind nun von ihrer abtrünnigen Operation enttäuscht?

Andere sind verblüfft angesichts der Annahme, dass eine Schurkengruppe für eine ausgeklügelte Operation verantwortlich sein soll, die nach Ansicht der Ermittler eigentlich nur von einem staatlichen Akteur durchgeführt werden kann – und dann auch nur von einer Handvoll Staaten.

Während die Ermittlungen weiter laufen, ist eine Täterschaft Russlands – die von Anfang an von US-amerikanischen Regierungsbeamten, Experten und Medien vermutet wurde – nahezu ausgeschlossen worden.

Wenn es sich um eine Operation unter falscher Flagge handeln sollte – wobei Spuren, die auf eine ukrainische Beteiligung hindeuten, zurückgelassen wurden –, was wäre der Grund dafür?

"Die Biden-Regierung scheint anzuerkennen, dass die Geschichte, die Russen hätten ihre eigene Pipeline in die Luft gesprengt, nicht stichhaltig ist", so Beebe.

Das heißt nicht, dass [die NYT-Geschichte] falsch ist, aber es wirft in meinen Augen Fragen auf, was hier vor sich geht. Sie haben den Reportern der New York Times keine Beweise vorgelegt, sondern einfach gesagt: "Wir haben diese neuen Informationen. Vertraut uns."

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.