Nordsyrien: Der Exodus der Christen und Armenier
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Von Waffenruhe kann keine Rede sein, die Angriffe gehen täglich weiter
Der Nahe Osten ist eines der großen Herkunftsgebiete der Christen und Armenier. Nach dem Genozid an den Armeniern 1915 durch die Jungtürken fanden viele Christen und Armenier auch in Nordsyrien ein neues Zuhause. Heute knüpft die Geschichte bedenklich an 1915 an und die Welt schaut zu; die Regierungen, die die christlichen Werte hochhalten, schweigen.
Von Waffenruhe kann keine Rede sein, die Angriffe gehen täglich weiter. Das Rojava Information Center berichtete vor vier Tagen, dass seit Beginn der sogenannten "Waffenruhe" 182 SDF-Soldaten und Soldatinnen getötet und 243 verletzt worden sind. Es gab seitdem 82 Luftangriffe und 108 Bodenangriffe auf Gebiete außerhalb der sogenannten "Sicherheitszone" seitens der Türkei.
Angriffe des IS
Am vergangenen Montag wurden der Pastor der armenischen Gemeinde in Qamishlo/Nordsyrien, Hovsep Petoyan (auch Hanna Ibrahim genannt), und sein Vater auf der Straße zwischen Hassaka und Deir el-Zor von Islamisten ermordet. Sie wurden in ihrem Auto attackiert und erschossen. Ein weiterer Insasse wurde verletzt. Der Pastor wollte sich über den Stand der Wiederaufbauarbeiten der armenisch-katholischen Kirche informieren.
Der IS bekannte sich zu dem Attentat. Seit der Invasion der Türkei sind die Attentate des IS in Nordsyrien um 48% gestiegen.
Für die Armenier und Christen hat die Stadt Deir el-Zor eine besondere historische Bedeutung. Die Stadt gehörte damals zum Osmanischen Reich und war Standort eines Konzentrationslagers im Zuge des Genozids an den Armeniern und Christen 1915. Dort endeten die berüchtigten Todesmärsche aus der heutigen Türkei.
Die noch in Syrien lebenden Armenier und viele der Christen sind die Nachkommen der Überlebenden des Genozids. Assyrische Christen und Armenier der dritten und vierten Generation nach dem Völkermord 1915 werden nun erneut vertrieben und ermordet. Die aktuellen Ereignisse sind im Spiegel dieser Geschichte besonders bedrohlich.
Ein junger Deutscher, der sich derzeit in Derik/Nordsyrien aufhält und von dort die deutsche Öffentlichkeit u.a. über die Lage der Christen informiert, wandte sich in einer Videobotschaft an den deutschen Außenminister Heiko Maas.
Angriffe der mit der Türkei verbündeten Islamisten
Ein wichtiges Siedlungsgebiet der Christen und Armenier sind Dörfer nahe der türkischen Mauer zwischen Kobane und Derik, die Dörfer entlang des Khabur-Flusses und die Stadt Til Temir (oft auch: Tel Tamer). Die Stadt wird derzeit - trotz angeblicher Waffenruhe - massiv von türkischen Truppen und der dschihadistischen SNA (die von der türkischen Regierung bezahlte, sogenannte "Syrische Nationale Armee") angegriffen, obwohl sie weit außerhalb der von der Türkei beanspruchten Sicherheitszone und außerhalb des mit Russland vereinbarten türkischen Besatzungsgebietes liegt.
Til Temir wurde von christlichen Assyrern, die den Genozid 1915 überlebten, gegründet. Viele kamen aus der türkischen Region Hakkari. 2015 überfiel der IS Til Temir und die Dörfer am Khabur-Fluss entführte oder tötete viele der Bewohner, zerstörte Kirchen - wie z.B. die Marienkirche des Dorfes Til Nisri, das die Autorin im Oktober 2018 besuchte und dort mit überlebenden Augenzeugen sprach.
Viele Christen flohen in den Irak und nach Europa. Nun fliehen die letzten verbliebenen Christen mit der kurdischen Bevölkerung erneut vor den Dschihadisten und den Türken, deren Vorfahren schon 1915 ihre Vorfahren vertrieben und massakriert hatten.
"Wohin sollen wir denn noch fliehen?"
Cosfin Ilyas Namo (75) stammt aus einer armenischen Familie aus Mardin/Türkei. Ihre Familie floh vor dem osmanischen Genozid 1915 nach Til Temir. Cosfin wurde in dem Dorf Til Nisri geboren. Als der IS 2015 das Dorf überfiel, floh sie nach Qamishlo, dann nach Hassaka und kehrte dann schließlich wieder nach Til Nisri zurück.
Nun, vor der erneuten islamistischen Gefahr stellt die 75 Jährige die Frage, wohin sie denn noch gehen sollen? "Ich werde hier nicht weichen. Mein Leben ist nicht wertvoller als das der jungen Menschen, die gegen die Invasion kämpfen. Ich werde mit ihnen hierbleiben", sagt sie.
Plünderungen und Verwüstungen
Wie in Afrin plündern und zerstören die Islamisten/Dschihadisten, die mit der türkischen Armee verbündet sind, Kirchen und Häuser der Christen.
In der umkämpften Stadt Gire Spi (arabisch: Tall Abyad) verwüsteten die von der Türkei finanzierten islamistischen Milizen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) eine armenische-christliche Kirche. Sie zerstörten eine Marienstatue, warfen religiöse Bilder und andere religiöse Gegenstände auf den Boden und warfen Kirchenbänke um.
In Tirbesiye (al-Darbasiyah) wurde die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die sogenannte "Alte Kirche" mit Artilleriegranaten beschossen.
Anfang November wurde ein Fahrzeug der medizinischen, evangelikanen Hilfsorganisation Free Burma Rangers angegriffen, wobei ein Arzt starb. Die Organisation wurde 1997 gegründet und war 20 Jahre lang vor allem in Myanmar aktiv. 2016 ging der Gründer der Hilfsorganisation mit seiner Familie in den Irak, um dort den Kampf gegen den sogenannten "Islamischen Staat" (IS) zu unterstützen. Seit rund einem Jahr ist seine Organisation auch in Nordsyrien aktiv.
Die christliche Organisation Syriac Strategic Research Center veröffentlichte einen Bericht über verletzte Christen, zerstörte Häuser, Geflüchtete und die Zerstörung von Kirchen und befürchtet ein Ende des Christentums in dieser Region. In Qamishlo bombardierte die Türkei gezielt die von Christen bewohnten Stadtviertel. Nahezu alle Bewohner flohen.
Aus der inzwischen von den SNA-Dschihadisten und türkischem Militär eroberten und besetzten Stadt Serekaniye (Ras al-Ain) sind ca. 100 christliche Familien nach Hassaka oder Derik geflohen. Zurückgeblieben sind einige kranke christliche Bewohner, deren Schicksal ungewiss ist.
In Derik wurden die Geflüchteten nun in dem ehemaligen ezidischen Flüchtlingscamp Newroz untergebracht. Wegen der Angriffe auf die Grenzstadt Tirbesiye flohen 24 christliche Familien mit Kindern ebenfalls nach Hassaka. Die Menschen berichteten von Granaten, mit denen ihre Häuser beschossen und viele durch Granatsplitter verletzt wurden.
Syrisch-assyrische Parteien und Kirchen protestieren gegen türkischen Einmarsch
Die syrisch-assyrischen Parteien verurteilen einstimmig die türkische Militärintervention. Die Partei der Syrischen Union (SUP) veröffentlichte am 9.10.2019 eine Erklärung:
Dieser Krieg, den der türkische Staat zusammen mit der sogenannten "nationalen Armee", - den Überrest der radikal-islamistischen bewaffneten Gruppen, die in der Vergangenheit Kriegsverbrechen gegen Zivilisten in den von ihnen kontrollierten syrischen Gebieten begangen haben - führt, ... ist eine große Bedrohung für die Zivilbevölkerung in Nord- und Ostsyrien, einschließlich unseres syrisch-chaldäisch-assyrischen Volkes. Angesichts dieser Situation appellieren wir an alle unsere Bürger, standhaft zu bleiben und der türkischen Besatzung zu widerstehen und unser Land zu verteidigen und es nicht aufzugeben... Wir appellieren auch an den UN-Sicherheitsrat, einzugreifen und diese türkische Aggression zu stoppen und auf einen umfassenden Waffenstillstand...hinzuarbeiten.
Partei der Syrischen Union (SUP)
Gabriel Shamoun von der Assyrischen Einheitspartei befürchtet ein zweites 1915: "Der Genozid von 1915 wiederholt sich. Schon damals wurde die assyrische, aramäische und armenische Bevölkerung ihrer Rechte beraubt. Heute widerfährt diesen Menschen das gleiche Schicksal. Ihre Existenz wird einfach ignoriert".
Shamoun bestätigt, dass alle Gegenden Nord- und Ostsyriens von der türkisch-islamistischen Besatzung betroffen sind und es nicht nur in dem für eine sogenannte "Sicherheitszone" vorgesehenen Grenzstreifen zu invasiven Angriffen kommt. Da die Menschen der Region von den Türken und dschihadistischen Söldnern als Ungläubige betrachtet werden, befürchtet er eine weitaus größere Angriffswelle auf Nord- und Ostsyrien, die unmittelbar bevorstehe.
Kritik kam auch von Pater Mikhail Yaacoub, dem Pastor der Mar Asya Kirche in Tirbesiye und der Mar Toma syrisch-orthodoxen Kirche in Serekaniye. Er lehnte jede türkische Intervention in den Gebieten Nord- und Ostsyriens ab. Pater George Moshe, Pastor der Evangelischen Kirche der Christlichen Union in Qamishlo, appellierte an die internationale Gemeinschaft, die Türkei unter Druck zu setzen, um die Verbrechen zu beenden.
Simon Jacob, der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD), sieht die Zukunft des orientalistischen Christentums massiv bedroht:
Es sind die letzten Atemzüge der alteingesessenen Christen.
Simon Jacob
Zwar hätten sich die Christen ihren jeweiligen Machthabern angepasst, aber die "radikal-islamische, wahhabitische Lehre habe die ganze Region erfasst, die Scharia den Rechtsstaat ausgehöhlt. Christen und Andersgläubige seien Bürger zweiter Klasse".