Nordsyrien: IS-Gefangene versuchten Ausbruch
YPG warnt vor dem Bedrohungspotential durch IS-Mitglieder in den Gefängnissen und Lagern. Kobane wird als Sitz eines internationalen Gerichts vorgeschlagen
Inhaftierte IS-Kämpfer haben am Freitag einen Ausbruchsversuch aus einem Gefängnis in der nordsyrischen Stadt Derik (kurdisch: Dêrik; arabisch: al-Malikiya) unternommen, der nach Angaben des Rojava Information Center vereitelt werden konnte.
Der Sprecher der US-geführten Koalition Col. Scott Rawlinson bestätigt, dass keiner der Gefangenen entkommen konnte, die SDF-Kräfte auf dem Posten waren und die Sache "friedlich erledigt" hätten. Offensichtlich stufte man den Zwischenfall als so bedeutsam ein, dass Flugzeuge der Koalition dorthin geschickt wurden, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Britische Quellen berichten von einem "Aufstand" (riot) im Gefängnis, bei dem "Dschihadisten Wachpersonal angegriffen haben, um auszubrechen".
[Nachtrag: Laut ANF-News dauerte es immerhin ein paar Stunden, bis die SDF-Mitglieder die Lage im Griff hatten. Die Flugzeuge sollen während der "Intervention" für Aufklärung gesorgt haben. Al-Monitor berichtete am 15. März vom "Hochsicherheitsgefängnis in Derik" mit etwa 400 Gefangenen aus vielen Ländern, darunter auch Europäer. Das Haftanstalt sei ein Sammelgefängnis für gefangene IS-Kämpfer, weswegen auch sehr gefährliche IS-Milizionäre dabei sein sollen. Im Bericht ist von kursierenden Ausbruchsplänen die Rede, die aber bis dato noch nicht in die Tat umgesetzt wurden. In der Reportage wird geschildert, dass unter den Gefangenen die Furcht verbreitet sei, sie würden in den Irak geschickt, wo ihnen das Todesurteil droht.]
Der Ausbruchversuch ist ein Hinweis darauf, dass sich die Situation in den kurdischen Gefängnissen mit den inhaftierten IS-Kämpfern zuspitzen kann. Nicht ausgeschlossen ist, dass es auch in den heillos überfüllten Lagern, wo nicht nur Frauen und Kinder, die sich dem IS angeschlossen hatten, untergebracht sind, sondern auch Männer, die sich als "Zivilisten", Köche, Fahrer oder auch Lehrer, ausgeben, zu heiklen Situationen kommt, die kippen können.
In einem ausführlichen aktuellen Interview spricht der YPG-Sprecher Nouri Mahmoud die grundsätzliche Gefahr durch die IS-Gefangenen, aber auch durch deren Frauen und Kinder, an und er erklärt zumindest teilweise die Probleme mit der Identifizierung.
Er spricht von einer Bedrohung, die nicht nur von den IS-Milizen selbst ausgeht, die nun, wie er hervorhebt, unter der Kontrolle der YPG-Kämpfern und YPJ-Kämpferinnen (wesentliche Kräfte der SDF) stehen, sondern auch von den Familienmitgliedern der Milizen, da diese ebenso wie die Milizionäre davon überzeugt seien, dass eines Tages ein neuer IS geschaffen werden könnte. Die IS-Mitglieder würden an diesem Ziel festhalten und versuchen, sich in den Lagern zu organisieren, wo sie auch "Terror-Unterricht" bekämen.
Die meisten würden versuchen, nach Idlib, al-Bab oder Jarabulus zu kommen. "Wenn wir ernsthafte Maßnahmen ergreifen wollen, um eine Wiederkehr des IS zu verhindern, dann brauchen wir internationale Unterstützung und Entscheidungen von der internationalen Koalition", so der YPG-Sprecher. Seine Forderung ist kurz und bündig:
Es braucht ein internationales Gericht.
YPG-Sprecher Nouri Mahmoud
Die Idee hatten die SDF kürzlich schon propagiert. Dass der deutsche Innenminister Seehofer die Forderung kürzlich am Rand eines G7-Treffens der Innenminister aufnahm (IS-Mitglieder: Seehofer für Internationale Strafgerichtsbarkeit) kann man als Hinweis darauf sehen, dass der Vorschlag sehr wohl auch in politischen Kreisen diskutiert wird. Öffentlich halten sich die Vertreter der westlichen Staaten allerdings mit verbindlichen Bekundungen zu einem Internationalen Tribunal zurück.
Kurden sind überlastet
Repräsentiert der YPG-Sprecher Mahmoud tatsächlich eine Auffassung, die auch in SDF-Kreisen Anhänger hat, dann wird dort Kobane als Sitz eines Internationalen Tribunals favorisiert.
Interessant sind die Einblicke, die Nouri Mahmoud in seinem Interview gibt. So erfährt man, dass die Rechtsprechung über die IS-Milizen bisher über "Not-Verfahren" liefen, die vor juristischen Räten ("Councils") der Kantone unter der kurdischen Verwaltung stattfanden - Mahmoud äußert in diesem Zusammenhang, dass diese Personen sich aber vor einem internationales Gericht auf der Grundlage internationaler Rechtsprechung "und Abmachungen" verantworten müssen.
Die kurdische Verwaltung sei mit dem Problem überlastet, betont auch er. Dazu zählt er nicht nur die juristische Zuständigkeit auf, sondern auch die Stichworte "Sicherheit, Psychologie , Medizin, Material, Nahrungsmittel und Gesundheit". Und er spricht ein Embargo an, mit dem Kurden konfrontiert würden. Ob er damit auf die Sanktionen gegen Syrien anspielt?
Das bleibt offen. Allerdings beschwert sich der YPG-Sprecher darüber, dass viel über Damaskus geregelt wird. Internationale Organisationen würden nur mit Damaskus verhandeln: "Daher kommt die meiste Hilfe über Damaskus, wo man gewöhnlich die Hilfe der UN und des Roten Kreuzes erschwert. (…) Diese internationalen Organisationen sprechen mit Damaskus, aber nicht mit uns. Daher liegt viel Last (gemeint ist die Versorgung, Anm. d. A.) auf uns."
Die YPG und andere Milizen stünden selbst nicht in Kontakt mit der Regierung in Damaskus, so Nouri Mahmoud, die Verhandlungen führe der Syrian Democratic Council. So erfährt man von ihm nichts darüber, wie sich die Regierung Baschar al-Assad zum Problem der tausenden IS-Mitglieder stellt, die auf dem Terrain in Nordsyrien in Gefängnissen und Lagern sitzen.
Eine genaue Zahl nennt auch der YPG-Sprecher nicht. Er sagt, dass bei vielen die Identität unklar sei. Es gebe keine Papiere. Die Aussagen zur Identität sind wohl wenig verlässlich. Das Problem hat ungeahnte Dimensionen, wie sich bei den Kindern zeigt. Unter ihnen seien aller Wahrscheinlichkeit nach sehr viele Kinder von Jesiden, die durch die IS-Erziehungsmaschinerie ihre Identität entweder verdrängt oder vergessen haben oder sie aus Angst vor den anwesenden IS-Mitgliedern im Lager nicht verraten wollen.