Nordsyrien: Mobilmachung auf beiden Seiten
Trump fordert, dass sich die Türkei um die gefangenen IS-Kämpfer kümmert. Update: Der türkische Angriff hat begonnen
Die türkische Regierung hat lange darauf gedrängt, in Nordsyrien eine "Sicherheitszone" einzurichten, zuletzt hatte Erdogan die Drohung vor dem türkischen Parlament verschärft, man werde es alleine machen: "Wir könnten plötzlich eines Nachts kommen."
[Update: Heute Nachmittag gab der türkische Präsident über Twitter bekannt, dass die Operation Peace Spring (Operation Friedensquelle) zusammen mit der "Syrischen National Armee" (einem Verbund islamistischer Milizen) gegen die "PKK/YPG und Daesh (IS)" begonnen habe.]
Gestern hat das türkische Parlament einen Antrag bewilligt, der die staatliche Befugnis, Militäroperationen diesseits der Grenze im Nordirak und Syrien durchzuführen, um ein Jahr verlängert. Das Verteidigungsministerium in Ankara teilte gestern mit, dass die Türkei für die "mögliche(!) militärische Operation östlich des Euphrat in Syrien bereit" sei. Das türkische Außenministerium hat angeblich angekündigt, dass man die "betroffenen Ländern einschließlich der syrischen Regierung über die Militäroperation informieren will".
Bilder sprechen dafür, dass die Vorbereitungen schon sehr weit gediehen sind: Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu zeigt auf ihrem türkischen Twitterauftritt einen Militärkonvoi mit angeblich 130 Fahrzeugen am türkischen Grenzübergang Akcakale, das nur einige hundert Meter von der syrischen Stadt Tell Abyad (kurdisch: Gire Spi) entfernt ist. Darüber hinaus kursieren Bilder oder Clips von Milizen der "Freien Syrischen Armee" (FAS), die sich sammeln und "bereit sind für die YPG/SDF.
"Historische Verantwortung zum Widerstand"
Indessen hat die "Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien" ihrerseits zur Mobilmachung aufgerufen: "In allen Städten für drei Tage", wie es in der Erklärung heißt:
Angesichts der intensivierten Angriffsvorbereitungen der türkischen Armee und der als ‚Nationale Armee Syriens‘ bezeichneten dschihadistischen Söldner rufen wir als Autonomieverwaltung eine dreitägige Mobilmachung in allen Städten Nord- und Ostsyriens aus. Damit einhergehend richten wir den Aufruf an die Bevölkerung, die Leitungen und unsere Institutionen, ihrer historischen Verantwortung nachzukommen, sich in ihren jeweiligen Regionen Richtung Grenze zu bewegen und in diesen bedeutungsvollen Momenten Widerstand zu leisten.
Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien
Man ruft zu Demonstrationen in der ganzen Welt auf. Die "gesamte Verantwortung" für die Entwicklung sehen die Verfasser "bei den Vereinten Nationen und allen ihren Institutionen, den USA, der Europäischen Union, Russland und allen in Syrien intervenierenden Ländern". Sie appellieren "an alle Einrichtungen und Länder, damit den Völkern Nord- und Ostsyriens kein Schaden zugefügt und keine humanitäre Krise stattfindet".
Die USA haben, wie angekündigt, ihre Truppen aus dem Gebiet abgezogen, wo die Militäroperation erwartet wird. Wie eine Meldung von France 24 andeutet, dürfte dies auch für französische Truppen der Fall sein, die sich möglicherweise in dem Gebiet befunden haben (Frankreich ist hier sehr "diskret" mit Informationen; Fotos, die auf sozialen Netzwerken zu sehen waren, machten vor einiger Zeit darauf aufmerksam, dass sich französische Einheiten auch in Nordsyrien aufhalten. Aus der Unterstützung der SDF machte die französische Regierung allerdings kein Hehl).
Trump: "Wir haben die Kurden nicht aufgegeben"
Nachdem Trump, wohl auf Druck aus seiner Umgebung und vor allem vom Pentagon, mit seiner Twitter-Diplomatie signalisierte, dass die USA darauf achten würden, wie sich die Türkei zu dem kurdischen US-Partner verhalten werde, stellt sich die Frage: Wie genau die USA hinschauen würden, wenn es zu einer Militäroperation kommt, was sie übersehen und wie lange sie hinschauen werden? Das Rojava-Network meldet, dass sechs gepanzerte US-Patrouillenfahrzeuge in die Stadt Kobane gefahren seien.
Trump selbst machte darauf aufmerksam, dass die SDF Waffen von den USA erhalten haben. Welche Waffen dies genau sind, wird sich zeigen. Angesichts der türkischen Luftwaffe liegt allerdings eine große Überlegenheit vor, gegen die die Truppen der SDF wenig Chancen haben.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, was die englisch-sprachige Ausgabe von Hurriyet berichtet. Demzufolge hat das US-geführte Kontrollcenter der Luftoperationen der Anti-IS-Koalition (Combined Air Operations Center) die Türkei von ihrem Aufgabenbereich ausgeschlossen, was u.a. bedeutet, dass die türkische Luftwaffe keinen Zugang mehr zu Aufklärungsinformationen erhält.
Die türkische Zeitung wertet dies als "effektive Ausschaltung der Türkei aus dem Luftraum im Nordosten Syriens", da eine Reihe von Maßnahmen die Möglichkeiten der türkischen Kampfflieger reduziere, die geplante Operation zu unterstützen.
Die geplante und allem Anschein nach bevorstehende Militäroperation wird, wie die Mobilmachungserklärung der kurdischen Verwaltung demonstriert, von einer öffentlichen Auseinandersetzung begleitet, weil sich die Türkei bemüht, die Einrichtung einer Sicherheitszone als "humanes Projekt" darzustellen, das eigene Sicherheitsinteressen übersteigt, da es auch um die Rückkehr von einer Million Flüchtlinge aus Syrien geht.
Die Empörung über diese Reklame ist groß, da Berichte über Zustände in Afrin derlei Ankündigungen einer "humanen Aktion" überhaupt nicht decken, sondern für eine Türkisierung von Afrin und eine Repression durch marodierende islamistische Truppen mit brutalen Mitteln sprechen.
Geht es nach einer Kurzmitteilung der russischen Botschaft in London, so nimmt Präsident Putin die diplomatische Vorgabe der Türkei an, ohne dies allerdings allzu sehr zu konkretisieren. Er wird damit zitiert, dass das syrische "settlement" (im Deutschen sind da mehrere Bedeutungen möglich) ein Modell für die Lösung regionaler Krisen werden könnte, wo diplomatische Lösungen in der überwiegenden Mehrheit der Fälle künftig genutzt werden. ("Syrian settlement can become a model for resolving regional crises where diplomatic mechanisms will be used in the vast majority of cases.").
Eine verbindliche Äußerung zur türkischen Militäroperation im Nordosten Syriens ist dies ersichtlich nicht, da dazu kein konkreter Hinweis geäußert wird. Aber es ist auch keine Warnung. Die Türkei hat erstmal grünes Licht von den beiden Großmächten. Vom Kommando der SDF werden Signale übermittelt, wonach man nun eine Partnerschaft mit Baschar al-Assad gegen die türkischen Truppen in Betracht zieht. Von einer solchen Abmachung, sollte sie jemals zustande kommen (im Fall Afrin scheiterte sie), wird auch das Verhalten Russlands abhängen.
Nachtrag: "Die Türkei MUSS die gefangenen IS-Kämpfer übernehmen"
Der Druck auf US-Präsident Trump ist beträchtlich. Zum innenpolitischen Kräftemessen angesichts eines Amtsenthebungs-Verfahren kommt eine Welle an Gegenreaktionen für das grüne Licht, das er der Türkei signalisiert hat. Wie stark die Opposition innerhalb der Strategie-Zentren im Pentagon und im Außenministerium ist, lässt sich nur erahnen - dass Generäle aufgebracht sind, zeigt sich exemplarisch an den Veröffentlichungen des früheren Centcom-Generals Joseph Votel, der im Magazin The Atlantic in den Tenor einstimmt, wonach Trump mit seiner Syrien-Politik der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der USA "schweren Schaden zufügt".
Meinungsartikel in US-Medien sowie Veröffentlichungen von Think-Tanks sind weitere Zeichen für den Gegenwind, der Trump nun entgegenschlägt. Er reagiert auf Twitter mit vielen Großbuchstaben und Erklärungen, die auf die Wähler spekulieren, die in ihm vor allem den Gegner von teuren und sinnlosen Militärinterventionen sehen sollen, der ein "Unverstandener" ist. "IN DEN NAHEN OSTEN REINZUGEHEN WAR DER SCHLIMMSTE ENTSCHEIDUNG EVER MADE", twittert er. Das habe acht Billionen Dollar gekostet, Tausende Opfer unter US-Soldaten und Millionen unter der Bevölkerung.
Er geht noch darauf ein - ein ungewöhnlicher Schritt für einen US-Präsidenten - dass der Einmarsch der amerikanischen Truppen unter falschen, mittlerweile wiederlegten Voraussetzungen geschah, weil es "KEINE" Massenvernichtungswaffen gab. Unter seiner Führung bringe man nun die Soldaten und das Militär wieder nachhause. Der Fokus liege auf dem großen Bild. Die USA seien nun größer als je zuvor (auch das in Großbuchstaben geschrieben).
Die Twittershow zeigt allerdings auch, dass sich Trump ungern reflektiert um Einzelheiten kümmert, die nichts direkt mit seinem Image vor dem Wählerpublikum zu tun haben, ihm steht das Impulsive näher, wie sein erster Tweet heute zur türkischen Militäroffensive veranschaulicht: Dort lässt er seinen Ärger über Europas Weigerung, die IS-Kämpfer zurückzunehmen, noch einmal spüren und fordert, dass die Türkei die (von den SDF gefangenen) IS-Kämpfer übernehmen muss ("MUST"). "Die dummen endlosen Kriege enden für uns."
Damit gibt er das nächste grüne Licht. Die Verhältnisse zwischen der Türkei und dem IS fallen in der Summe positiv für den IS aus. Der hat sich über die Türkei mit Waffen und Rekruten versorgen können. Sollte die Türkei für die gefangenen IS-Kämpfer verantwortlich werden, so bekommt sie ein Pfand in die Hand, das sie in Verhandlungen mit Europa zur Unterstützung der türkischen Politik einsetzen könnte und darüber hinaus kann man sich auch noch schlimmere Vorstellungen machen.
In manchen Quellen heißt es, dass die Türkei die Anti-IS-Operation im Norden Syriens leiten soll. Das ist nach bisherigen Erfahrungen keine gute Nachricht außer für die IS-Milizen.