"Notwendig ist endlich ein Schutzkonzept für die 900.000 Pflegeheimbewohner"
Der Countdown zum harten Lockdown läuft: Im Interview mit Telepolis kritisiert der Chef der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, in scharfer Form die Bundesregierung, die Impf-Strategie und den blinden Aktionismus der Landespolitiker
Der Politikwissenschaftler und Politikberater Eugen Brysch ist der geschäftsführende Vorstand der einflussreichsten deutschen Patientenorganisation Stiftung Patientenschutz, vormals Deutsche Hospiz-Stiftung. Gegründet vom Malteserorden verzichtet sie zur Finanzierung auf Gelder von Staat und Kirchen, um Unabhängigkeit zu wahren.
Die Stiftung war maßgeblich beteiligt an der Erarbeitung des Palliativleistungsgesetzes 2007 und des Patientenverfügungsgesetzes von 2009 und hat seit 2013 Verbandsklagerecht. Laut Stiftungszweck "bezieht sie Stellung für die Selbstbestimmung von Schwerstkranken sowie für den Schutz vor Willkür und Inhumanität".
Wie betrachten Sie denn aus Sicht der Patienten die neuen Planungen für einen verschärften Lockdown?
Eugen Brysch: Mittlerweile überbieten sich die Regierungschefs bei den Maßnahmen für einen härteren Lockdown. Ob das in Krisenzeiten wirklich zielführend ist, scheint fraglich. Es muss nicht alles getan werden, sondern das Richtige. Notwendig ist endlich ein überzeugendes, bundesweit einheitliches Schutzkonzept für die 900.000 Pflegeheimbewohner. Sie bilden schließlich die verletzlichste Gruppe in der Pandemie. Grundlegende Maßnahmen bleiben ein sicherer Infektionsgrundschutz, eine lückenlose Kontaktdokumentation und laborgestützte PCR-Tests zweimal in der Woche. Ebenso müssen zusätzlich tägliche Schnelltests bei allen Mitarbeitern und Besuchern erfolgen. Nur so kann es gelingen, das Virus möglichst schon vor der Einrichtung zu stoppen.
Hat die Regierung nicht einige Fehler gemacht und die Pandemie unterschätzt? Wurden von der Politik die realen Ängste vor dem Virus vernachlässigt? Besonders Ältere, Vorerkrankte sind bedroht. Es gibt hunderte Tote pro Tag …
Eugen Brysch: Nach dem ersten Lockdown konkurrierten die Länderchefs regelrecht bei den Lockerungen. Die Mehrheit ignorierte die Warnungen von Experten vor einer zweiten Welle. Es wurde in den Sommermonaten versäumt, die Hochrisikogruppe dort zu schützen, wo sie lebt. Ebenso sind die Gesundheitsämter nicht digital fit gemacht worden. Das rächt sich jetzt. Denn immer mehr Pflegeeinrichtungen verhängen erneut Betretungsverbote aus Angst vor Infektionsausbrüchen. Zudem gibt es weiterhin keine genauen Zahlen zum Infektionsgeschehen in den 12.000 Pflegeheimen. Bund und Länder erfassen nicht, wie viele Heimbewohner tatsächlich isoliert leben müssen. Zwar reden die Regierungschefs viel von den vulnerablen Gruppen, aber täglich abrufbare Fakten werden hier nicht gesammelt.
Ist das deutsche Gesundheitssystem denn generell gut aufgestellt in Bezug auf solche Lagen? Der Sommer und der Herbst zeigten viele Schwächen, leiden tun die Patienten darunter ...
Eugen Brysch: Das Virus zeigt deutlich die Schwächen des deutschen Gesundheitswesens. Die Altenpflege und die öffentliche Gesundheitsverwaltung sind die Achillesverse. Bei den niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern gibt es weniger Grund zur Sorge.
"Eins steht fest: Den einen Impfstoff gibt es nicht, der für alle Bevölkerungsgruppen geeignet ist"
Und was muss die Gesundheitspolitik generell verändern?
Eugen Brysch: Die Bundeskanzlerin muss die Altenpflege endlich zur Chefsache machen. Beim RKI und den 400 Gesundheitsämtern gibt es viele Verantwortliche, warum es nicht läuft. Das sind die Oberbürgermeister, Landräte, Gesundheitsminister der Länder und der Bundesgesundheitsminister.
Sie kritisierten vorgestern aber auch die Impfstrategie als unlogisch. Was genau meinen Sie? Müssen Patienten denn Angst haben, dass alles bis ins Jahr 2022 oder 2023 geht, Pandemie, Impfungen, Auswirkungen?
Eugen Brysch: Eins steht fest, den einen Impfstoff gibt es nicht, der für alle Bevölkerungsgruppen geeignet ist. Ebenso zeichnet sich schon jetzt ab, dass die logistischen Anforderungen für die Seren sehr unterschiedlich sein werden. Es macht einen großen Unterschied, ob der Impfstoff bei minus 70 Grad transportiert und gelagert werden muss oder eine einfache Kühlung genügt. Doch das logistische Prozedere ist deutlich einfacher zu regeln als die Priorisierung bei der Impfstoff-Verteilung. Deshalb ist bedauerlich, dass es im Bundestag dazu keine intensive Debatte gegeben hat. Dann wäre die Bevölkerung viel besser auf das kommende Impfjahr vorbereitet gewesen.
Zwar wird niemand zur Impfung gezwungen. Doch muss klar sein, wie die Aufklärungspflichten auch bei Massenimpfungen gewahrt werden können. Auch darf der Immunstatus jedes Einzelnen dabei nicht unter den Tisch fallen. Erschwerend ist zudem, dass über Verträglichkeiten und Wechselwirkungen des jeweiligen Impfstoffes jetzt noch nicht viel bekannt ist.