Ökosystem-Denken und Ökologismus
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- Nähe von ökologistischen Auffassungen zu einer Stimmung
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Der Reduktionismus hat mit dem Ökosystem-Denken seine Gestalt gewechselt
Gegenüber der Beschränkung auf lineare Kausalketten haben sich Wissenskonzeptionen profiliert, die Vernetzungen denken. Eine seit den 1980er Jahren vergleichsweise populäre Version findet sich in Frederic Vesters Buch "Die Kunst vernetzt zu denken". In der für die ökologischen Probleme sensiblen Öffentlichkeit spielt der Begriff des "Ökosystems" eine große Rolle. Oft herrscht aber wenig Aufmerksamkeit für die mit ihm verbundenen Grenzen und Probleme.
Das Ökosystem-Denken fasst einen Wald als Vernetzung von verschiedenen Faktoren auf. Gefragt wird, wie sich die quantitative Veränderung eines Faktors auf andere Faktoren auswirkt, welche positiven und negativen Rückkopplungen es gibt, welche Schwellen- und Grenzwerte sowie Kipp-Punkte. Zwar kommt "das Ganze" in den Blick, aber nur in einer bestimmten Hinsicht. Beispielsweise gelten "Pflanzen nur in ihrer Eigenschaft als Produzenten von Biomasse".1 Die Faktoren eines Ökosystems sind in ihm nach Maßgabe ihrer Funktion relevant. Wer oder was sie erfüllt, ist gleichgültig.
Funktionsträger
So "meinte etwa ein deutscher Tierökologe, dass man, da ein Schwan die gleiche Funktion im Ökosystem erfülle wie soundso viele Enten, diese durch jenen ersetzen könne".2 Übertragen auf die Ernährungslehre heißt die Austauschbarkeit von Funktionsträgern: "Ob Wasser und Brot oder Sekt und Kaviar ist egal, Hauptsache, die Ernährungswerte stimmen. … Essen wird zum rein physiologischen Ernährungsvorgang, zur Zufuhr lebensnotwendiger Stoffe; als kulturellem und genussvollem Akt und Teil täglichen Lebens kommt ihm kybernetisch keine Bedeutung zu."3 Astronautennahrung schmeckt nicht, braucht aber wenig Platz und ernährt.
Dieses Ökosystemdenken unterscheidet sich gänzlich von einer Herangehensweise, die der "alten Natur- und Heimatschutzbewegung" eigen war. "Schutz der Natur um ihrer selbst willen oder auch der Freude wegen, die man an Blumen und Schmetterlingen haben mag, wird als romantische Sentimentalität abgetan. Natur gelte es zu schützen, weil ihre Intaktheit (was immer das heißen mochte) Voraussetzung für das Überleben der Menschen sei. Dies wissenschaftlich nachgewiesen zu haben, sei das Verdienst der Ökologie: Nun endlich habe man festen Grund unter den Füßen, könne mit Fakten argumentieren, statt auf bloß subjektiven Wünschen zu beharren."4
Typisch für einen sehr selektiven Blick auf die Geschichte ist die 2019 erschienene Broschüre "Umweltschutz ist Heimatschutz - Die extreme Rechte und die Ökologie".5 In ihr kommt die Natur- und Heimatschutzbewegung im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts allein als reaktionär und präfaschistisch vor. Ihre berechtigte Kritik an den "Sachzwängen" und Folgen moderner Infrastrukturen und Technologien sowie ihre Einsichten in die "Dialektik der Aufklärung" fallen unter den Tisch.
Sowohl im "Modell des Regelkreises" als auch "im Modell der Energieumwandlung" spielen weder das individuelle Lebewesen noch die Spezies eine Rolle. Im Ökosystemdenken "erscheint die Natur mit Funktionsträgern bevölkert: Individuen sind bedeutsam, insofern sie an selbstregulierenden Prozessen oder als Teil einer Nahrungskette mitwirken. Ihr Wert liegt darin, eine Funktion zu erfüllen."
Das Systemdenken "erschließt eine Welt von Relationen und keine Welt von Individuen. Folglich sind die einzelnen Lebewesen substituierbar, umso mehr als die meisten systemisch relevanten Prozesse auf subindividueller Ebene ablaufen. Schwierig sich vorzustellen, wie eine solche Perspektive die Schutzwürdigkeit von bestimmten Arten oder gar die Dignität einzelner Geschöpfe begründen kann".6
Die Frage nach dem "guten Leben" - kein Thema?
Einige der Zusammenhänge, die die Disziplin "Ökologie" wissenschaftlich behandelt, sind seit einiger Zeit Thema der politischen Öffentlichkeit. Zum Problem wird in ihr, dass das gesellschaftlich vorherrschende Modell von Produktion, Technologie und Konsum sich negativ - mit den Folgen des Klimawandels - auswirkt auf die Lebensbedingungen bzw. die äußeren Voraussetzungen menschlichen Lebens. Die Qualität des menschlichen Lebens, soweit es sich um mehr handelt als um den Stoffwechsel mit der Natur, ist dann kein Thema - anders als in der Frage nach dem "guten Leben" und einer Gesellschaft des guten Lebens.7
Mit der Ökologie wird etwas demgegenüber Externes zum Maßstab. Daran sind die Menschen im modernen Kapitalismus oder der kapitalistischen Moderne gewohnt. Gesellschaftlich maßgeblich ist in der Gestaltung des Arbeitens, der Gegenstände des weit verstandenen Konsums und der Sozialbeziehungen nicht das gute Leben. Gesellschaftlich maßgeblich sind Maßstäbe, die davon absehen - also in der Moderne Maßstäbe der Effizienz und Zweck-Mittel-Rationalität, im Kapitalismus Mehrwert und Profit.
Problematisch ist nicht nur, wenn sich die Aufmerksamkeit für die Gegenwart auf die ökologische Bedrohung verengt, sondern auch, wenn sowohl die Grenzen, die dem Ökosystemdenken eigen sind, als auch seine nichtevidenten negativen "Neben"wirkungen ausgeblendet werden. Ökosystem-Analysen können - wie naturwissenschaftliche Analysen - "richtig" bzw. innerhalb ihrer Grenzen angemessen sein.
Das Problem fängt dort an, wo die Abstraktionen, die in sie eingehen, nicht ausreichend bewusst werden. Schon in der naturwissenschaftlich-technischen Praxis sowie im Umgang mit ihr kommt häufig ein Bewusstsein zu kurz, das einen Unterschied macht zwischen einem Bewusstsein von der eigenen Aktivität dieser Praxis (also dem, was die Naturwissenschaft jeweils mit dem von ihr thematisierten Ausschnitt von Natur "macht") und dem, worauf sich die Naturwissenschaft bezieht (also ihrem Realobjekt).8
Gewiss existiert beispielsweise in der Risikobewertung bei den Modellierern der Annahmen und Modelle eine selbstreflexive Aufmerksamkeit in Form einer "Unsicherheitsanalyse". Es fragt sich allerdings, ob sie über den eigenen Schatten einer Fixierung auf eine quantitative Herangehensweise springen kann und die Grenzen des eigenen Vorgehens in den Blick zu bekommen vermag.
Reduktionismus
Der Reduktionismus hat mit dem Ökosystem-Denken seine Gestalt gewechselt. Die Reduktion, die dem Übergang "vom alten Elementbegriff 'Wasser' auf 'H2O eigen ist, besteht darin, "in all dem qualitativ Verschiedenen", das Wasser heißt, die gleiche Kombination von chemischen Elementen aufzufinden.9 Bezog sich diese Reduktion auf die "stoffliche Gleichheit", die Phänomenen zugrundeliegt, so bezieht sich bei Ökosystemen die Reduktion auf die Rolle oder Funktion im Gefüge.
Verabschiedet wird eine bornierte Konzentration auf die beabsichtigten Wirkungen zugunsten eines Verhältnisses zur Natur, das die ungewollten Nebenwirkungen mit in den Blick bekommt. "Systemdenken zielt auf Kontrolle zweiter Ordnung, auf die Kontrolle der Kontrolle ab. Es ist die Epistemologie für eine präventive Beobachtung und Kontrolle der Naturausbeutung."10
Aus Raumgründen kann ich hier nur selektiv auf Ökosystem-Ansätze eingehen. Für eine umfassende kritische fachkundige Auseinandersetzung wären etwa Thomas Kirchhoff "Systemauffassungen und biologische Theorien" und vor allem die Arbeiten von Ludwig Trepl (1946-2016) heranzuziehen. Er war zuletzt Professor für Landschaftsökologie in München. Als Nicht-Naturwissenschaftler beziehe ich mich auf seine populäreren kürzeren Aufsätze. Trepl unterscheidet - entgegen häufig vorfindlichen ökologistischen Auffassungen - zwischen Organismus und "Ökosystem".
Letzterem ist nicht wie Organismen eine immanente Tendenz zur Selbststabilisierung zuzuschreiben. Ökosysteme sind "biologische 'Gesellschaften', die Organismen verschiedener Arten samt ihrer Umwelt umfassen" und können nicht "als Organismen ('Superorganismen') gelten. Diese Auffassung war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Ökologie sehr verbreitet, verschwand dann aber weitgehend aus dieser Wissenschaft, wenn auch nicht ganz, während sie einige Zeit später zum metaphysischen Kern des Paradigmas einer mächtigen sozialen Bewegung wurde. Wo diese Auffassung mehr oder weniger explizit vertreten wird, ist sie fast immer mit … Halbdistanzierungen verbunden … . Man sieht sich z. B. gezwungen zuzugeben, dass das Ökosystem kein Organismus ist, aber es sei doch etwas einem Organismus Analoges."11 Zur Kritik am "Gaia"-Konzept siehe Trepls Veröffentlichung: Die Erde ist kein Lebewesen.
Ökologistische Meinungen tragen zur höheren Akzeptanz von organizistischen Auffassungen bei. Sie wenden nicht nur den Begriff "Organismus" auf "Objekte" an, die mit ihm nichts zu tun haben, sondern begrüßen das Organismus-Sein normativ als positiv.
Verwechslung eines Ökosystems mit der Natur
Ideologisch folgenreich ist die mangelnde Unterscheidung zwischen dem, was die Natur für uns ist, und dem, was die Natur für sich ist. Dazu gehört auch die Verwechselung eines Ökosystems, das der Beobachter auf bestimmte Weise definiert, mit der jeweiligen "Natur". Wer von "kranker Natur" redet, meint damit meist eine Natur, die uns krank macht und für uns keine gedeihliche Lebensbedingung darstellt. Wer meint, es sei evident, dass ein "umkippendes Gewässer" zeige, "hier stimmt etwas nicht", hätte zu fragen, was "nicht stimmt".
"Unseren Zwecken genügt das Gewässer nicht mehr. Es gibt aber Arten von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen, denen geht es in dem 'umgekippten' Gewässer viel besser als in dem vorherigen, dem "gesunden"; dieses ist für sie 'krank', d. h. krankmachend."12
Selbstverständlich lässt sich die Schädigung oder Zerstörung eines Ökosystems wissenschaftlich definieren, indem man angibt, "was der Soll-Zustand des Systems ist, und dann ist eine leichtere Abweichung davon eine Schädigung. Und man definiert, ab wann nicht mehr vom Vorhandensein des Systems zu sprechen ist; damit ist festgelegt, was eine Zerstörung ist. Das Problem ist vielmehr, dass man, anders als bei einem Organismus, bei einem Ökosystem völlig frei ist in der Definition solcher Zustände. Man kann nach Belieben (faktisch geschieht es nach Interesse), d. h. je nach Wahl der das System definierenden Merkmale, von Veränderung des nach wie vor bestehenden Ökosystems oder aber von der Zerstörung des Systems sprechen. Ebenso kann man je nach - beliebiger oder interessenbedingter - Wahl der Kriterien eine bestimmte Veränderung eine Verbesserung oder eine Verschlechterung nennen."13
Es existiert anders als bei einem Organismus in einem Ökosystem "kein genetisches Programm, in dem festgelegt wäre, welche Ökosystem-Komponenten sich unter normalen Umständen bilden und welche Prozesse von ihnen ausgehen, und das so beschaffen ist, dass dieses System in seiner Umwelt (sofern diese der Umwelt gleicht, in der dieses Programm einst positiv selektiert wurde) eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit hat".14
Es gibt anders als im Organismus beim Ökosystem auch keinen immanenten Maßstab. "Das Ökosystem stirbt nicht, wenn der Nährstoffkreislauf nicht mehr funktioniert wie vorher. Es gäbe zwar dieses Ökosystem nicht mehr, es würde zwar ein anderes Ökosystem an seine Stelle treten. Wir könnten aber ebenso gut sagen: Es würde sich zu einem anderen Ökosystem entwickeln, oder auch: Das Ökosystem besteht noch, es hat sich nur verändert. Bei einem Organismus ist es nicht möglich, so zu reden."15
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