Österreich: Ein Kurz und drei gärige Haufen

Sebastian Kurz. Foto: Kreml

Nach der Nationalratswahl will sich der junge Altkanzler mit der Regierungsbildung Zeit lassen, um herauszubekommen, wo sich "Personen [finden], die die charakterlichen Eigenschaften haben, die es braucht, um ein Regierungsamt auszuüben"

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Heute wird der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen dem Übergangskabinett der parteilosen Juristin Brigitte Bierlein den Auftrag zur kommissarischen Führung der Regierungsgeschäfte verlängern. An den beiden Tagen danach will er mit Vertretern der ÖVP, der SPÖ, der FPÖ, der Grünen und der Neos sprechen. Dass er nach diesen Gesprächen den Auftrag zur Bildung einer regulären Regierung an Sebastian Kurz als Vertreter der mit Abstand stärksten Partei vergibt, gilt als ausgemacht. Eine Mehrheit gegen Kurz wäre nämlich nur dann möglich, wenn SPÖ, FPÖ und Grüne sich auf eine Alternative einigen.

Kurz selbst hat mehr Koalitionsoptionen und will sich nicht zu einer schnellen Entscheidung drängen lassen. Auch nicht von bundesdeutschen Leitmedien, wie er am Sonntagabend in einem sehenswerten Interview mit dem ZDF-Nachrichtenmoderator Claus Kleber deutlich machte. Er werde, so Kurz, nun erst einmal das tun, was er seinen Wähler "im Wahlkampf versprochen habe": "Mit allen Gespräche zu führen", "unvoreingenommen in all diese Gespräche hinein[zu]gehen" und "mit allen Parteien eine Schnittmenge zu finden".

Neos als Reserverad?

Grünen-Chef Werner Kogler, der "österreichische Habeck", forderte bereits vor dem Beginn solcher Gespräche "das strengste Transparenz- und Parteiengesetz in Europa" und dass "Österreich in Sachen Klima- und Naturschutz wieder zur Nummer eins" werden müsse. Anderen Grünen schwebt da allerdings mehr vor, was in Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP wahrscheinlich nicht so leicht durchsetzbar wäre. Die grüne Nationalratsabgordnete Sigrid Maurer verlangt sogar eine "komplette Wende" von der Volkspartei, mit der es sonst "keine Schnittmengen" gebe.

Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen aus den Reihen der Grünen wies die Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger gestern öffentlich darauf hin, dass die am 20. September formulierten "Bedingungen" ihrer Partei "weiter am Tisch" liegen würden, auch wenn ÖVP und Grüne wegen der deutlichen Zugewinne beider Parteien nun auch ohne Neos eine Mehrheit von voraussichtlich fünf Sitzen im neuen Nationalrat hätten. Mit den Neos zusammen läge diese Mehrheit allerdings nicht bei fünf, sondern bei 19 Sitzen, was einzelnen Grünen-Abgeordnete wie Maurer deutlich weniger Blockademacht geben würde.

"Situation in den einzelnen Parteien sehr unübersichtlich"

Zwei andere Optionen brachte der ehemalige Grünen-Europaabgeordnete Michel Reimon ins Spiel: Eine Koalition der ÖVP mit der SPÖ, die es "viel billiger gebe" als eine mit den Grünen, oder eine Koalition der ÖVP mit der FPÖ, die für Kurz "am billigsten" sei. Was bei Reimon eher despektierlich klingt, das formulierte Kurz selbst am Sonntag etwas freundlicher, als er meinte, die "inhaltliche Zusammenarbeit mit der Freiheitlichen Partei" habe "in den letzten beiden Jahren sehr gut funktioniert" die Zustimmung zu ihr sei "extrem hoch" gewesen.

Etwas einschränkend meinte Kurz (wenn auch nicht nur auf die FPÖ bezogen), außer auf die "größten inhaltlichen Übereinstimmungen" müsse er aber auch darauf achten, "mit welcher Partei […] die notwendige Stabilität vorhanden [wäre], um eine Regierung bilden zu können" und wo sich "Personen [finden], die die charakterlichen Eigenschaften haben, die es braucht, um ein Regierungsamt auszuüben". Deshalb könne es mit der Regierungsbildung "diesmal deutlich länger dauern" als vor zwei Jahren, "insbesondere, weil die Situation in den einzelnen Parteien sehr unübersichtlich" sei.

Das kann man als Hinweis darauf lesen, dass der 33-Jährige jetzt erst einmal abwarten will, wie die zu erwartenden Machtkämpfe ausgehen. Bei den Grünen, aber auch bei den beiden großen Wahlverlierern FPÖ und SPÖ.

Reicht ein Ausschluss Straches, um die FPÖ zu befrieden?

Bei der FPÖ wurden gestern aus den Landesverbänden mehr oder weniger direkte Forderungen nach einem Parteiausschluss von Heinz-Christian Strache laut, dem man wegen des Ibiza- und des Spesengeldskandals die Hauptschuld an der Niederlage gibt. "Hätte Strache nach Ibiza das Gleiche getan wie [Johann] Gudenus", so beispielsweise der niederösterreichische FPÖ-Landesrat Gottfried Waldhäusl, dann "wäre uns das erspart geblieben". Auch im alemannischsprachigen Vorarlberg, wo am 13. Oktober gewählt wird, meinte FPÖ-Landeschef Christof Bitschi, während man im Ländle wisse, dass jeder Euro zwei- und dreimal umgedreht werden muss, müssten das einige Wiener anscheinend noch lernen.

Ob ein Parteiaustritt oder ein Ausschluss Straches, den der FPÖ-Bundesvorstand möglicherweise morgen Nachmittag beschließt, als Opfer ausreicht, um die FPÖ zu befrieden, ist noch offen. Danach könnte man sich nämlich fragen, warum es dem eher ÖVP-ähnlichen Spitzenkandidaten Norbert Hofer nicht gelang, zu verhindern, dass ein Fünftel der ehemaligen FPÖ-Wähler zur ÖVP abgewandert ist. Das könnte dann zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen dem Hofer- und dem Kickl-Flügel führen, dessen Ausgang Kurz möglicherweise abwarten will.

Bobo-Opfer Drozda

Auch in der SPÖ scheinen bei weitem noch nicht alle Aufarbeitungsfragen geklärt, obwohl mit Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda gestern ein erster Funktionär zurücktrat. Er galt als Vertreter einer "Bobo-SPÖ" - eines Juste Milieu, das sich von einer Arbeiterschaft entfernte, die auch nach den Strache-Affären noch zu 48 Prozent die FPÖ wählte. Diesen Wählern, so der bodenständige Tiroler SPÖ-Parteichef Georg Dornauer gestern, sei eine Doppelnamenträgerin wie Pamela Rendi-Wagner nicht vermittelbar.

Reicht Drozda als Bauernopfer nicht aus und wird Rendi-Wagner in den nächsten Wochen oder Monaten doch noch ersetzt, könnte es sein, das mit dem unter anderem von Dornauer geschätzten burgenländischen Dänenkursfahrer Hans-Peter Doskozil ein SPÖ-Politiker an die Macht kommt, mit dem Kurz in den Bereichen Sicherheits- und Migrationspolitik "größere inhaltliche Übereinstimmungen" erzielen kann als mit der Wiener Ärztin. Doskozil meinte gestern jedoch, die SPD solle nicht in eine Regierung, sondern in die Opposition gehen. So eine Meinung könnte sich schnell ändern, wenn er Parteichef wird.

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