"Offensive Informationspolitik"
Reality-TV live vom Sterbebett: Der todkranke Präsident als Österreichs Quotenbringer
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Realtime-Fernsehen den Tod oder zumindest die lebensbedrohliche Krankheit als Quotenbringer entdeckt. Keine private, am Markt schwer kämpfende Fernsehstation feuert in Österreich heute seit 9 Uhr früh – zuletzt sogar im Halbstunden-Takt – Sondersendungen vom Allgemeinen Krankenhaus (AKH) in Wien in Österreichs Wohnzimmer. Es ist vielmehr der vielfach abgesicherte, hochinstitutionalisierte öffentlich-rechtliche ORF, der den Gesundheitszustand des schwer erkrankten österreichischen Präsidenten Thomas Klestil auf die Top-Agenda gesetzt hat – in einer Dimension, die bislang ihresgleichen sucht.
Wir erfahren alles: Den aktuellen Zustand von Herz, Kreislaufsystem, Lunge und Leber, sogar über potenzielle Hirnschäden wird diskutiert. Prognosen werden abgegeben, ob der Präsident den heutigen Tag überleben wird oder nicht. Der ärztliche Leiter ist in den ORF-Interviews schonungslos offen. Er spricht professionell, kühl und sachlich – wie man sich einen Arzt, dem man im Ernstfall sein ganzes Vertrauen schenken muss, vorzustellen hat. Der Reporter bedankt sich für die (wörtlich) "offensive Informationspolitik" des Krankenhauses gegenüber dem ORF.
Diese "offensive Informationspolitik" sollte doch hinterfragt werden (dürfen). Das Wörtchen "Politik" deutet bereits darauf hin, dass es auch um ein Bargaining, einen Deal gehen könnte: Hier ein bisschen mehr Vertrauen in die – den Tod mit allen Mitteln bekämpfenden – Wiener Top-Ärzte, dort einfach höhere Einschaltquoten. Doch man muss gar nicht der Koalition AKH/ORF derart Böses unterstellen. Es genügt schon die Frage: Müssen die ÖsterreicherInnen über den Gesundheitszustand ihres Präsidenten derart präzise informiert werden? Ist das Teil der Informationspflicht des ORF – freilich unparteiisch, 'objektiv' wie immer?
Mehrere Antworten wären denkbar: Zum einen könnte man mutmaßen, dass die Österreicherinnen und Österreicher zu ihrem Präsidenten Thomas Klestil eine derart enge emotionale Bindung aufgebaut hätten wie etwa die Briten zu ihrer Queen. Doch keine Meinungsumfrage der vergangenen zehn Jahre gibt darauf auch nur den geringsten Hinweis. Zum anderen könnte man behaupten, der todkranke Bundespräsident destabilisiere die österreichischen politischen Verhältnisse so sehr, dass das Volk eben minutiös erfahren müsse, was da gesundheitlich vor sich gehe. Es gibt jedoch ebenfalls nicht den leisesten Hinweis darauf, dass Österreich ins Strudeln und Wanken geraten ist, seit Bundeskanzler Schüssel die Amtsgeschäfte des Präsidenten interimistisch übernommen hat. Also was ist es dann?
Vielleicht die Lungenentzündung des Präsidenten, die der österreichischen Öffentlichkeit im Jahre 1996 tagelang 'vorenthalten' wurde? Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Präsident ist nicht bei Bewusstsein und das österreichische Volk lebte damals weiter, als wäre nichts geschehen.
Präsident Klestil kann sich derzeit nicht wehren. Vielleicht hat er tatsächlich verfügt, dass im Ernstfall über seinen Gesundheitszustand derart akribisch berichtet werden sollte. Vielleicht aber auch nicht. Oder aber – die wahrscheinlichste Variante – die Medien haben die Chance einer "offensiven Informationspolitik" genutzt und schlachten das Thema nun radikal aus.
Was wird der nächste Schritt sein? In einer wohl nicht allzu fernen Medienzukunft wird der Reporter nicht mehr vor dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus stehen, sondern in der Intensivstation selbst. Reality-TV live vom Sterbebett: Interaktives digitales Fernsehen der Zukunft wird es ermöglichen, in kleinen Fenstern sich aktuelle Gesundheitsdaten abzurufen: Schau mal, der Blutzuckerwert ist kritisch! Der Blutdruck sinkt! Ein Volk ist eben live dabei.
Wo hört das mediale Blickbegehren auf? Wie wäre es mit Endoskop-TV? Werden wir, nachdem wir die erste Hürde vom Außenbereich des AKH ans Bett gemeistert haben, auch Bilder aus der Innenwelt des Körpers übertragen bekommen? Stelarc hat es vorgemacht – ist das die mediale Zukunft? Gibt es überhaupt noch eine Grenze? Wird es Wettbüros geben, wird man auf den Todeszeitpunkt setzen können? Was für eine Marktlücke!
Wie immer bei den Massenmedien, ist alles von Ökonomie und Heuchelei durchdrungen. Eine lebensbedrohliche Erkrankung oder gar ein Sterbeprozess sind mitunter die wohl intimsten Dinge im Leben eines Menschen und für das nahe Umfeld. In den Massenmedien haben sie eigentlich nichts verloren. Und dieses Argument muss nicht einmal ein ethisches oder theologisches sein; die Grenze zieht, möchte man fast sagen, der gesunde Hausverstand. In Österreich geht man gerade einen radikal anderen Weg.
Man darf dabei nicht vergessen, dass es im Leben des Thomas Klestil bereits mehrfach Tabubrüche gab, unerwartete Einbrüche der Medien ins Privatleben. Wir erinnern uns noch an eine legendäre Schlagzeile im Vierfarb-Boulevard. Nun macht der mediale Geifer nicht einmal mehr vor der Intensivstation Halt.
Es zeigt sich, dass die Massenmedien einmal mehr sehr erfolgreich die Funktion der Verdrängung erfüllen: Die lebensbedrohliche Erkrankung bzw. das mögliche Sterben wird als Einzelfall dargestellt. Damit wird von der unausweichlichen 'Tatsache' abstrahiert, dass es jeden von uns und um uns herum betreffen könnte und wird. Wir fiebern mit dem ORF um neue News vom Krankenbett des Präsidenten, und wir werden dann mit den Angehörigen mittrauern, sollte der Ernstfall eintreten. Doch das ist delegierte Trauerarbeit, Projektion. Denn wir vergessen, dass der Ernstfall auch wir selbst sind und unser von den Massenmedien geschürtes Informationsbegehren eigentlich beim Staatsoberhaupt und seiner Familie gar nichts verloren hat.
Anmerkung des Verfassers:
Dieser Kommentar wurde am 6. Juli 2004 um 14 Uhr verfasst. Um 23:30 am selben Tag ist Bundespräsident Thomas Klestil verstorben. Eine für den Fall seines Ablebens geplante Pressekonferenz im Allgemeinen Krankenhaus wurde auf Wunsch von Klestils Familie abgesagt. Die ungewohnt intensive Prä-Todes-Berichterstattung - nicht nur im ORF, auch auf news.at und in anderen Medien - wandelte sich dann schnell zum üblichen Staatstrauer-Framing. Man darf davon ausgehen, dass diese Form der minutiösen medialen Sterbebegleitung medienethische, aber auch informationsrechtliche Debatten nach sich ziehen wird.