Ohne Descartes keine wissenschaftliche und keine politische Zukunft
Seite 2: Descartes' Traum
Normalerweise geht man davon aus, daß sein Erkenntnisprogramm, das er aus seinem berühmten Traum entwickelt hat, darauf abzielt, aus dem Zweifel herauszukommen und Gewißheit zu finden. Zudem war sein Programm doch auch sehr solipsistisch. Andere Menschen kommen darin gar nicht vor. Wie kann es also moralisch sein?
RÖSSLER: Das ist vollkommen richtig, aber das sieht nur so aus. Wenn man wirklich etwas für alle tun will, dann muß man sich alleine auf den Weg machen. Bei Descartes geht es immer um die moralische Komponente - wie in jeder Religion, auch wenn gar nicht direkt die Rede davon ist.
Ich denke an die Geschichte von Jakob, der mit dem Engel kämpft. In seinem Traum bezieht sich Descartes auf diese Geschichte. Descartes wird im Traum von einem Sturm ein paar Mal auf dem linken Fuß herumgewirbelt. Es war so schwierig vorwärtszukommen, daß er bei jedem Schritt glaubte hinzufallen. Danach hatte er ein lahmes Bein. Das lahme Bein verweist auf die Jakobsgeschichte, die für ihn offenbar eine ganz zentrale Rolle spielte.
Er hat wahrscheinlich gewußt, daß dieser Traum eine historische Dimension besitzt. Die Erkenntnis, daß man nicht ewig mit der Angst leben muß, steht dabei ganz im Vordergrund. Die Religion spendet Trost, aber Trost ist weniger als Wissen. Descartes hat versucht, sich ganz rational wie Münchhausen am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Die Methode war sein Konsistenztest: Solange alles im Traum des Wacherlebens zusammenpaßt, ist die Welt eine Maschine. Wenn sie eine Maschine ist, dann bin ich exterior zum anderen. Diese Exteriorität bedeutet, daß ich gleichermaßen Sklaven habe, die mir ausgeliefert sind. Dann bin nicht mehr nur ich ausgeliefert, sondern ich habe dieselbe Macht. Das hängt von der Wissenschaft ab, nämlich ob sie mir hilft, ein guter Sadist zu sein. Aber wozu muß man ein guter sein Sadist können? Weil man nur dann auf den Machtmißbrauch verzichten und das Gute tun kann. Levinas hat behauptet, daß das Gesicht des Menschen nackt sei und sagen würde: Töte mich nicht! Laß mich nicht allein in meinem Sterben! Daß die Menschen sich so wahnsinnig verletzen können, wird von Descartes bestätigt. Es ist die eigentliche Stellung des Menschen, daß er so viel Verantwortung besitzt und so mächtig ist.
Aber wozu dient die Wissenschaft eigentlich? Um sich durch sie über sie hinaus zu erheben, also wie eine Leiter, die man wegwirft, wenn man oben angekommen ist?
RÖSSLER: Sie dient zur Falsifikation. Descartes war sozusagen ein guter Popperianer. Er hat an keinerlei Sicherheit geglaubt, denn er wußte, daß man nicht mehr als eine Hypothese aufstellen kann, die morgen schon kaputtgehen kann. Descartes' Hypothese ist die der Konsistenz. Solange sie nicht widerlegt ist, darf ich glauben, daß die Welt und die anderen Menschen Maschinen sind und daß ich allmächtig bin. Dann habe ich auch erst die Möglichkeit, diese Macht nicht zu mißbrauchen. Meine eigene Opferrolle - als programmiertes, von Sekunde zu Sekunde neu zu halluzinieren gezwungenes Wesen, mit diesem oder jenem halluzinierten Körper in einer unfreiwilligen virtuellen Realität ohne Escape-Button - wäre auf einmal umgedreht. Wenn die Welt hingegen nicht konsistent wäre, gäbe es nur einen einzigen großen Brei, in den alle getunkt wären. Dann könnte keiner aufstehen und einem anderen die Hand reichen.
Wissenschaft wäre dann ein Instrument zur Selbstermächtigung, denn wenn man die Gesetze der Welt kennt, dann kann man sie auch manipulieren. Andererseits ist man als Teil der Welt selbst Maschine und kann manipuliert werden. Aber Sie glauben, daß aus dieser wechelseitigen Selbstermächtigung, emphatisch gesprochen, ein neuer Geist erwachsen könnte, der nicht mehr auf einem Glauben, sondern auf dem Wissen basiert.
RÖSSLER: Ja, das ließ Descartes auch so optimistisch sein. Er hat beispielsweise gesagt, wer ihm nachfolge, der wird eines Tages den Tod besiegen. Wenn man wirklich an die Grundfesten der Welt die Hand anlegen kann, indem man zuerst einmal ihre Konsistenz prüft, dann kann man auch ganz neue Technologien entwickeln, die weit über alles hinausgehen, was Technik bisher geleistet hat. Die bisherigen Technologien kann man als "etwas in der Welt verändernde Technologien" bezeichnen. Die neuen Technologien, die aus diesem Programm entstehen, würden die Welt als ganze verändern. Das wären World-Change-Technologies. Ein Beispiel wäre eine Zeitmaschine, wie sie von Gödel als Folgerung der allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben wurde, aber mit Aussicht auf Realisierbarkeit. Jetzt-Veränderung wäre Weltveränderung.