Optionsmaschinen und die Formatierung der Welt
Seite 2: Erfüllt sich Pierangelo Masets Prognose eines Geistessterben
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Amazon, Google, Apple und Co. sind als Plattformen sowohl Anbieter von Inhalten, sie stellen aber auch die Zugangsgeräte, ermöglichen den Zugang zum Netz und lenken den Diskurs. Sie sind Hersteller von Technologie, Produzent und Kaufhaus in einem. Mehr Kontrolle über Form, Inhalt und dank digitaler Technologien auch der Nutzer selbst geht fast nicht.
Es lässt sich angesichts der Kontrolle von Inhalt, Form und Auswahl sowie den dargebotenen Optionen von den Möglichkeiten einer Formatierung der Wirklichkeit sprechen, die eng mit den kulturellen Gegebenheiten und der technischen Ausgestaltung der Geräte zusammenhängt.
Im Sinne Pierangelo Masets handelt es sich hier um nicht weniger als das von ihm diagnostizierte Geistessterben. Um eine eher positiv konnotierte Dimension in die Analyse zu bringen, möchte ich den Aspekt der Unterhaltung hervorheben. Damit wäre es möglich, digitale Technologie als kulturelles Phänomen zu benennen, das untrennbar von seien Inhalten und Produzenten geworden ist.
Die Überwachung ist möglich, weil sie in den Produkten angelegt und von ihnen scheinbar nicht trennbar ist. Digitale Technologien sind eben nicht mehr nur Ergänzungen zum sonstigen Leben, sondern Kern des Sozialen geworden und über sie damit auch die Kontrolle von Gesellschaft und Individuen.
In diesem Sinne kann man das von J.G. Ballard in seinem Roman "High Rise" evozierte Bild des Hochhauses als Totalität auch auf eine Unterhaltungsgesellschaft anwenden, die durch und über digitale Technologie kontrolliert wird, wobei die Bedürfnisse ihrer Mitglieder nach Distinktion und Modernität die Erklärungen für ihre Akzeptanz liefern würden.
Andererseits mochten Sie ihre wahren Bedürfnisse später herausstellen. Je öder und reizloser das Leben im Hochhaus wurde, desto größere Möglichkeiten bot es. Eben durch seine Effizienz übernahm das Hochhaus die Aufgabe, das soziale Gefüge, das sie alle stützte, zu bewahren. Es beseitigte erstmals die Notwendigkeit ihnen die Freiheit, von der Norm abweichende und abwegige Regungen zu erkunden. Genau in diesen Bereichen würden sich die wichtigsten und interessantesten Erscheinungen ihres Lebens zutragen. Im Gehäuse des Hochhauses geborgen und sicher wie Passagiere an Bord eines mittels Autopilot gesteuerten Verkehrsflugzeuges, hatten sie die Freiheit, sich auf jede beliebige Weise zu benehmen, die dunkelsten Ecken, die sie finden konnten, zu erkunden. In vieler Hinsicht war das Hochhaus ein Musterbeispiel für all das, was die Technologie getan hatte, um die Manifestation einer wahrhaft "freien" Psychopathologie zu ermöglichen
J.G. Ballard, High Rise, 2016
Die Gesellschaft der Singularitäten als freie Psychopathologie in einer digital erzeugten, vermittelten und beherrschten Überwachungsgesellschaft, deren innere Logik Unterhaltung, Distinktion und der widersprüchliche Wunsch einer Zugehörigkeit zu einem individualisierten Kollektiv ausmacht? Darüber gilt es in Zukunft nachzudenken.
Diese Gesellschaft ist möglich, weil ihre Verlockungen und Versprechungen auf die individuellen und kollektiven Bedürfnisse innerhalb der Gesellschaft treffen. Gewissermaßen ko-evolutionär entwickeln sich beide aufeinander bezogen. Die Digitalisierung ist nicht der Ausgangspunkt einer solchen Gesellschaft, sondern die willkommene Konsequenz ohnehin bestehender Bedürfnisse.
Literatur:
Cohn, Jonathan (2019). The Burden of Choice. Recommendations, Subversion, and Algorithmic Culture. New Brunswick: Rutgers Univ. Press.
Dennet, Daniel (2019). What can we do. In: John Brockman (ed.). Possible minds. 25 ways of looking at AI. New York: Penguin.
Marx, Gary T. (2016). Windows into the Soul. Surveillance and Society in an Age of High Technology. Chicago: Chicago University Press.
Maset, Pierangelo (2010). Geistessterben. Eine Diagnose. Stuttgart: Radius.
Reckwitz, Andreas (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sambuli, Nanjira (2017). Africans need to grow technology, but on their own terms. Daily Nation 20.07.2017. URL:
Zuboff, Shoshana (2018). Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.M.: Campus.
Teile dieses Textes waren bereits im Frühjahr 2020 schienen in:
Nils Zurawski: Der totale Unterhaltungsstaat. Überwachung im digitalen Zeitalter. Über Konsum, KI und nicht nur digitale Domestiken, in Zeitschrift für Semiotik, Band 40/2018 (erschienen im Mai 2020).
Im März 2021 erscheint bei transcript sein Buch: Überwachen und Konsumieren. Kontrolle, Normen und soziale Beziehungen in der digitalen Gesellschaft, in dem diese Motive theoretisch weitergedacht werden.
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