Ora et labora
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Die Genese des Kapitalkultes ist eng mit der Geschichte des Christentums verwoben. Kapitalismus als säkularisierte Religion - Teil2
Kein Gegensatz scheint krasser als der zwischen Kapitalismus und Christentum. In ihren Repliken auf die Kapitalismuskritik des Papstes, die sein apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium bestimmt, haben die meisten Kapitalismusapologeten gerade diese scheinbaren Abgründe zwischen Kapital und Vatikan betont (siehe Teil 1: Das Schisma von 2013).
Die ungeheure Wachstumsdynamik des Kapitals wird dann gerne der Statik der christlichen, mittelalterlichen Gesellschaften gegenübergestellt. Der christliche Blick auf das Jenseits, die damit einhergehende Selbstbeschränkung und Aufopferung um des ewigen Himmelreichs wegen, stehen der kapitalistischen Orientierung am Diesseits und dem egoistischen Streben nach Glück und Reichtum im Hier und Jetzt entgegen. Jeder könne danach streben, sein ganz persönliches Himmelreich auf Erden zu realisieren, wodurch langfristig die gesamte Gesellschaft profiliere - dies ist das Versprechen, das der Kapitalismus seinen Insassen gibt.
Und nicht zuletzt wird gerne die moderne Rationalität und Effizienz, auf der Wissenschaft und Wirtschaft beruhen, gegen den christlichen "Aberglauben", gegen die religiöse Irrationalität in Anschlag gebracht. Die dynamische, von einer permanenten wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzung erfasste kapitalistische Gesellschaft erscheint so als das real existierende Erbe der Periode der bürgerlichen Aufklärung, mit der die Dämonen und die Wahngebilde des finsteren Mittelalters vertrieben sein sollten. Und dennoch ist die durchrationalisierte kapitalistische Welt von eskalierenden Widersprüchen und zunehmenden Konflikten geprägt. Das kapitalistische System, das auf Rationalität, Optimierung und permanenter Innovation zu fußen scheint, bringt alltäglich die Wahngebilde und Dämonen wieder zu Vorschein, die doch eigentlich von der Aufklärung längst ins Reich der Fantasie und Hirngespinste verbannt sein sollten. Offensichtlich wohnt dem System all seiner Rationalität zum Trotz ein irrationaler Kern inne, der etwa millionenhaften Hungertote mit obszöner Lebensmittelverschwendung oder zunehmende Obdachlosigkeit mit dem Abriss leer stehender Wohnflächen versöhnt - ohne dass den Insassen dieses Systems die Absurdität dieser Zustände noch groß auffiele.
Bete und Leide
Indes sind die Verflechtungen zwischen Kapital und Religion enger, als es heutzutage den Anschein hat. In der Tat ist die Entstehung des Kapitals, das den Anschein nackter Rationalität erweckt, tief mit der Geschichte des "irrationalen" Christentums verwoben. Wichtige Impulse zur Etablierung des Kapitalverhältnisses kamen aus christlichen Reformbewegungen - und dieser religiös-kultische Gehalt, dieser Fetischismus, wirkt bis heute fort. Der nun offen zutage tretende Irrationalismus unserer "verwalteten Welt" (Adorno) beruht gerade auf diesem religiösen Moment, das im Verlauf der geschichtlichen Durchsetzung des Kapitals einen Prozess der Säkularisierung durchlief.
Schon das Fundament der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die fremdbestimmte Verausgabung von Arbeitskraft in Form der Lohnarbeit, kann auf einen genuin christlichen Ursprung zurückgeführt werden. Die christlichen Mönchsorden - hier insbesondere die Benediktiner - haben der körperlichen Arbeit einen sakralen Schein verliehen, der ab dem Spätmittelalter mit dem Begriff Ora et labora zum Ausdruck gebracht wurde (in der ursprünglichen Regula Benedicti aus dem 6. Jahrhundert war er noch nicht zu finden). Ora et labora wird gemeinhin mit "Bete und arbeite" übersetzt, doch weist das lateinische Verb laborare eine breitere Bedeutung auf: Neben "arbeiten" bedeutet es auch leiden, sich abmühen, in Not sein.
Zum einen deutet diese Doppeldeutigkeit von laborare darauf hin, dass die positive Bedeutung als Lebenssinn oder Lebensinhalt, die dem Arbeitsbegriff im Kapitalismus angehängt wurde, in der gesamten früheren Menschheitsgeschichte nicht gegeben war. Offensichtlich wurde im Mittelalter und in der Antike kein großer Unterschied zwischen Leiden und Arbeiten gemacht. Körperliche Arbeit galt als Mühsal und Fluch, den die herrschenden Klassen nach Möglichkeit den Sklaven (Antike) oder dem 3. Stand (Mittelalter) aufbürdeten. In der Bibel werden bekanntlich Adam und Eva für ihren Sündenfall zu lebenslanger Arbeit verurteilt: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist", heißt es in der entsprechenden Bibelstelle.
Die benediktinische Ordensregel könnte somit auch mit "bete und leide" übersetzt werden. Durch die Mühsal und das Leid harter körperlicher Arbeit eiferten die Mönche dem Leiden Jesu Christi nach, um hierdurch dem Himmelreich näher zu kommen. Konkrete körperliche Tätigkeit wurde somit zu einem bloßen Mittel, mit dem ein außer ihr liegender abstrakter Zweck erreicht werden sollte: das Seelenheil des arbeitenden Mönches, der durch Gebet und Leid schaffende Arbeit ins Paradies einzugehen hoffte. Damit wird aber Arbeit auch zu einem religiös konnotierten Selbstzweck, der unabhängig von der konkreten Tätigkeit und ihrem Nutzen für den Arbeitenden ausgeführt wird, um ein "äußeres" und jenseitiges Ziel zu verwirklichen.
Die Arbeit der Mönche unterschied sich somit in ihrer religiösen Konnotation grundlegend von der Plackerei, die Sklaven in der Antike oder auch leibeigene Bauern im Rahmen der brutalen Fronarbeit etwa im spätmittelalterlichen Osteuropa zu verrichten hatten. Deren erzwungene Ausübung bildete ja die Grundlage für alle großen Aufstände der Menschheitsgeschichte - vom Spartakus-Aufstand bis zur Bundschuh-Bewegung. In den Klöstern Europas erhielt die Arbeit ihren "Heiligenschein", der ihr eine höhere und "selig machende" Bedeutung zuschrieb. Im Fortgang der Jahrhunderte setzte ein Bedeutungswandel des klösterlichen Arbeitsbegriffs ein, das Bewusstsein des "Leidens" verschwand mit der Verinnerlichung der Arbeitsdisziplin, der sakrale Gehalt gewann an Bedeutung.