Ortskräfte in Afghanistan: Auf der Flucht zurückgelassen

Seite 2: Bis zu 30.000 Menschen in Lebensgefahr

Diejenigen Ortskräfte, die weniger Glück hatten – darunter nicht nur Praktikanten wie Anargol Ahmadi, sondern auch langjährige Mitarbeiter – bleiben als Namen weiterhin auf Listen geparkt, die Icomos und andere deutsche Nichtregierungsorganisationen ans Auswärtige Amt und ans Innenministerium weitergereicht haben. Was mit diesen Listen im Detail passiert, ist ungewiss. "Wir haben keinen Durchblick, wer warum eine Aufenthaltszusage bekommt", sagt Ahmadis ehemaliger Betreuer.

Seit August 2021 erhielten mehr als 36.000 ehemalige afghanische Ortskräfte und weitere besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen eine Aufnahmezusage. Das erklärte die Bundesregierung im vergangenen Oktober auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger.

Fast genauso hoch ist aber die Zahl der Ortskräfte, die noch immer nicht als solche anerkannt oder abgelehnt wurden. Auf Anfrage der taz beziffert die Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" deren Zahl auf ungefähr 30.000 Ortskräfte. Sie befinden sich weiterhin in Lebensgefahr oder leben in einem unmittelbaren Nachbarland in einer ähnlich prekären Lage wie Anargol Ahmadi.

Für sie sollte das "Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan" Abhilfe schaffen, das am 17. Oktober an den Start ging. Der Fokus der Unterstützung liegt dabei auf Frauen und Mädchen, die im Afghanistan der Taliban besonders gefährdet sind. Als Frau, die an dem Erhalt der von Taliban gesprengten Buddha-Statuen in Bamyan mitgewirkt hat, sollte das Programm für die Archäologin Anargol Ahmadi eigentlich wie geschaffen sein. Doch Ahmadi kommt für das Bundesaufnahmeprogramm gleich aus zwei Gründen nicht infrage.

Der erste Grund ist ihr aktueller Aufenthaltsort. Das Bundesaufnahmeprogramm richtet sich ausschließlich an gefährdete Personen, die sich noch immer in Afghanistan befinden.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnet das Kriterium als "höchst problematisch": Gerade diejenigen, die in Afghanistan am gefährdetsten sind und deshalb in vielen Fällen bereits die Flucht in die unmittelbaren Nachbarländer ergriffen haben, bleiben dadurch vom Programm ausgeschlossen.

Der Icomos-Mitarbeiter, der innerhalb der NGO für die Anfragen ehemaliger Ortskräfte zuständig ist, spricht von einem offensichtlichen "Widerspruch innerhalb dieses Programms", das an sich wichtig sei und Anerkennung verdiene.

Der andere Grund, warum Anargol Ahmadi im Iran weiterhin sich selbst überlassen bleibt, ist die Geschlossenheit des Programms. Nicht die gefährdeten Personen selbst, sondern "meldeberechtigte Stellen", also ausgewählte zivilgesellschaftliche Organisationen, sollen die Daten der betreffenden Personen über ein Online-Tool mit mehr als 100 Fragen an die Bundesregierung weiterleiten.

Bestimmt werden die meldeberechtigten Stellen ausschließlich von der Bundesregierung. Ahmadis Arbeitgeber waren offenbar nicht darunter – doch dazu will man bei Icomos keine Angaben machen. Würde nämlich bekannt, dass eine NGO als meldeberechtigte Stelle gelistet ist, würden dessen Postfächer sofort von Hilfegesuchen geflutet werden.

Dieser Umstand habe vor Ort bereits einen betrügerischen Markt entstehen lassen, auf dem die Vermittlung in das Programm gegen Geld versprochen wird, berichtet der Icomos-Mitarbeiter. Organisationen, die die Realität vor Ort kennen, sprechen sich auch deshalb für eine Öffnung des Programms aus: Betroffene sollen sich selbst registrieren können und endlich eine wahre Handlungsoption bekommen.

Wenn die junge Archäologin Anargol Ahmadi durch das Programm keine Hilfe bekam, ist das keine Ausnahme, vielmehr die Regel: Nach einem Bericht der taz ist in den drei Monaten seit dem Start des Programms kein einziger Mensch dadurch nach Deutschland gekommen. Das Innenministerium begründet das mit "komplexen Rahmenbedingungen", mit der Neuigkeit der Verfahrens und mit der "Vielzahl von Akteuren".

Ahmadi hat sich längst nach anderen Möglichkeiten umgesehen, um sich aus ihrer Notlage zu befreien. Dazu gehörte neulich die Bewerbung für ein DAAD-Stipendium, Icomos hat dafür ein Empfehlungsschreiben verfasst. Doch diesen Versuch ließ der DAAD an den mangelnden Deutschkenntnissen scheitern – Kenntnisse, die sich Afghaninnen zumindest momentan wegen des Schulverbots der Taliban gar nicht erst aneignen könnten.

David Meier, Ahmadis deutscher Kollege, sieht in den Widersprüchen und "komplexen Rahmenbedingungen" mittlerweile ein System. "Die dreschen nur Phrasen und verstecken sich hinter kontraproduktiven Regularien", sagt er enttäuscht.

Auch Ahmadis ehemaliger Ausbilder wünscht sich, dass es weniger kompliziert und umständlich wäre, frühere Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Er kennt noch härtere Fälle, Familien, die sich in Afghanistan, eineinhalb Jahre nach der Rückkehr der Taliban, noch immer in Kellern verstecken müssen. "Im schlimmsten Fall", sagt er, "kostet unsere Bürokratie Menschenleben."