Oskar und die neuen Roten

SPD in Panik: Wahlalternative hat stürmischen Zulauf, und ein prominentes Zugpferd wiehert schon

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Innerhalb von wenigen Wochen 2.500 Mitglieder, jeden Tag gehen in der Fürther Geschäftstelle um die 300 Anträge ein - seit der Vereinsgründung der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) am 5. Juli ist der Zustrom ungebrochen und eher steigend, und das trotz Urlaubszeit. Ob das Sammelbecken enttäuschter Sozialdemokraten sich tatsächlich auch an Wahlen beteiligen wird, soll zwar erst im November entschieden werden, doch die Nervosität im Willy Brandt-Haus wächst. Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hat Ende Juli in einem Brandbrief an 12 000 Betriebsräte vor der Neugründung gewarnt - hier fürchtet jemand, dass der Partei wirklich die Basis wegbrechen könnte.

Doch in der zweiten Augustwoche sind die Sorgen noch größer geworden. Grund ist die Drohung ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine in der aktuellen Ausgabe des Spiegel mit einem Parteiwechsel. Vor allem drei Sätze wirkten wie eine Bombe:

Es geht mit Schröder nicht mehr ... Ich kämpfe für eine wirkliche Neuorientierung der SPD. Wenn dies nicht gelingt, werde ich eine Wahlalternative unterstützen.

"Er ist einer aus dem vergangenen Jahrhundert", lästerte ausgerechnet einer, der selbst wie ein aschgrauer Methusalix der Stummfilm-Ära wirkt - der bereits erwähnte Müntefering. Der Fraktionsvize Gernot Erler, im Unterschied zu dem Saarländer in den letzten Jahren fast für jeden Krieg zu haben, versprach, dem Kritiker "keine Träne" nachzuweinen, wenn er in die neue Linkspartei einträte. SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter, eine gefürchtete Schlaftablette auf allen Parteiversammlungen, drohte: "Wer sich für gegnerische Organisationen stark macht, diese unterstützt, der muss wissen, dass er dies nicht innerhalb der SPD tun kann." Auch der Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit mit dem drakonischsten Sparprogramm der ganzen Republik forderte Lafontaine zum Parteiaustritt auf. In der Folge sahen Hinterbänkler aller Provinzen die Chance, sich mit Abmahnungen an die Adresse des polyglotten Ex-Bundesfinanzministers zu profilieren.

Die Aufregung wird verständlich, wenn man die Analysen des Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter in Betracht zieht. Der schätzt das Potenzial einer neuen Linkspartei mit Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat auf "15 bis 20 Prozent". In diesem Fall "besteht für die SPD Anlass zu großer Sorge". "Sowohl PDS als auch die Sozialdemokraten wären bei den nächsten Wahlen die Verlierer", glaubt Falter. Die SPD würde es aber deutlich schlimmer treffen.

Neue Arbeiterpartei mit Massenanhang?

Die neue Linkspartei ist Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie. Geht man auf die Versammlungen der Wahlalternative, so versteht man Müntefering mit seinen Sorgen. In Berlin beispielsweise trafen sich Anfang Juli 250 Menschen zu einem ersten Meinungsaustausch. Etwa 90 Prozent waren das, was Politaktivisten "neue Leute" nennen - Familienväter zwischen 40 und 60, meist mit Frau, beide mit SPD-Parteibuch und/oder Mitgliedsausweis einer DGB-Gewerkschaft.

Diese Menschen haben sich noch nie in ihrem Leben an irgendeiner außerparlamentarischen Kampagne beteiligt (wovon es wahrlich in Westberlin seit 1968 genug gab). Das ist anders als im Konstituierungsprozess der grünen und alternativen Bewegung Ende der siebziger Jahre oder auch bei den kurzlebigen Demokratischen Sozialisten - einer Formation, die die SPD-Bundestagsdissidenten Karlheinz Hansen und Manfred Coppik 1982 ins Leben riefen. Damals kamen vor allem linksradikale Kader, umherschweifende Haschrebellen, Studenten und Ökobauern zusammen, soziologisch gesehen: Mittelschichten. Nun könnte sich, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, eine neue Arbeiterpartei mit Massenanhang formieren.

Dafür spricht, dass die Initiatoren der Wahlalternative grundsolide Gewerkschaftsleute sind. Da ist zum einen ein Trupp hochrangiger IG Metall-Funktionäre aus Bayern um den Schweinfurter Metallerchef Klaus Ernst. Da sind zum Zweiten wichtige Gewerkschaftsaktivisten aus dem Ruhrpott, etwa Ralf Krämer, der Dortmunder Sekretär im Bundesvorstand von Verdi, oder Hüseyin Aydin, IGM-Sekretär in Düsseldorf. Um diese beiden Hauptstränge bilden sich täglich neue Ableger. So werben etwa Peter Goldschmidt, der Emdener Vorsitzende des DGB, und Dieter Hooge, jahrzehntelanger Chef des DGB Hessen, ganz offen für die Wahlalternative. Mittlerweile gibt es neben etwa 50 lokalen und regionalen Gruppen auch drei Landesverbände der Wahlalternative im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg.

Verlierer ist die SPD, aber was ist mit der PDS?

Noch nicht geklärt ist das Verhältnis zur PDS. Berlin ist bis dato der einzige Punkt, wo beide Formationen in ähnlicher Stärke aufeinandertreffen könnten. Der Rest des Bundesgebietes ist klar aufgeteilt: In den alten Bundesländern kann die Wahlalternative genau jene enttäuschten Sozialdemokraten erreichen, die die PDS immer ansprechen wollte, aber nie erreichen konnte. In den neuen Ländern hingegen profitiert bisher allein die PDS vom bundesweiten Absturz der SPD und wird wohl auch bei den Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg im Herbst wieder deutlich zulegen.

Vor diesem Hintergrund haben PDS-Chef Lothar Bisky und sein Querdenker André Brie Ende Juli eine Strategie entwickelt, die die Wahlalternative ins Schwitzen bringen könnte: Die Wessis kandidieren bei den Landtagswahlen im Westen, die Ossis im Osten, und bei den Bundestagswahlen 2006 klebt man beide Formationen über eine pfiffige Listenverbindung zusammen. Peter Maier, der Sprecher der Wahlalternative, hat das zwar sofort abgelehnt. Aber man darf davon ausgehen, dass Leute wie Joachim Bischoff, der lange Zeit im PDS-Bundesvorstand war und jetzt in der Bundesführung der Wahlalternative mitmischt, an diesem Punkt nicht so rigoros sind. Vor allem war auffällig, dass der derzeit prominenteste Mann der Wahlalternative, Bundesgeschäftsführer Klaus Ernst, lediglich sagte, die von Bisky und Brie aufgeworfenen Fragen stellten sich "derzeit" nicht.

Die derzeitigen politischen Turbulenzen erinnern an die Endphase der Ära Schmidt Ende der siebziger Jahre: Als sich in der BRD unter dem Druck außerparlamentarischer Proteste und begünstigt durch die Aufrüstungs- und Sparpolitik der SPD/FDP-Bundesregierung eine neue Partei herausbildete, die Grünen. Dieselbe Wechselwirkung könnte sich nun zwischen den Montagsdemonstrationen und der Wahlalternative einstellen. Natürlich muss man dabei mit Trittbrettfahrern rechnen: Sowohl die Aktionen vor Atomkraftwerksstandorten wie die grünen Initiativgruppen wurden damals auch von Christdemokraten, von Pfarrern und selbst von Rechtsradikalen frequentiert. Das ist dieses Mal nicht anders, und trotzdem gibt es weniger Anlass zur Sorge: Sozialproteste sind Klassenkampf, und das ist die Domäne der Linken.