Pager als Waffen: Der Dammbruch in der digitalen Kriegsführung

Ein alter Pager in einer Männerhand

Bild: AFS / Shutterstock.com

Der Angriff Israels im Libanon ist eine Zäsur. Über Technologie als tödliche Waffe von Geheimdiensten, Militarisierung und Risiken. Eine Reflexion.

Wenn man etliche Semester Ethik in den Fächern Mediengestaltung und Intermedia (die hippe Version davon) gelehrt hat, macht man sich viele Gedanken über schädliche Wirkungen von Medien.

Man bedenkt psychische, soziale, politische Probleme, Suchtfaktoren, Propaganda usw. Aber auf die Idee, dass technische Medien selbst einmal für massenhafte Sprengstoff-Angriffe verwendet werden könnten, ist der Autor dieses Beitrags zugegebenermaßen nicht gekommen.

Genau das ist jetzt im Libanon tausendfach geschehen, bei einem Anschlag auf die Hisbollah, der mindestens 3.000 Verletzte und 37 Tote (Tagesschau), darunter ein zehnjähriges Mädchen, forderte. Das wird Folgen haben.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen hat eine unabhängige Untersuchung des Angriffs im Libanon und in Syrien gefordert.

Der UN-Sicherheitsrat wird heute zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen, nachdem das Ratsmitglied Algerien die Sitzung beantragt hatte.

Wie es scheint, wurde bei der Attacke Sprengstoff in Pager sowie in Funkgeräte platziert und aus der Ferne zur Explosion gebracht. Einen rein digitalen Angriff können wir nach Expertenmeinung ausschließen, da der Energiegehalt der Pager-Akkus zu gering war und solche Akkus sich ohnehin nicht zu den beobachteten Explosionen bringen ließen (wohl aber zu gefährlichen Stichflammen, vor allem bei Mobiltelefonen mit ihren größeren Akkus).

Die Koordinierung der fast zeitgleich erfolgenden Explosionen setzt zusätzlich jedoch einen digitalen Angriff voraus.

Die weiteren Folgen

Es kursieren Meldungen über eine Verurteilung des Angriffs durch den wohl bekanntesten Experten für digitale Kriegsführung, den NSA- und CIA-Whistleblower Edward Snowden; diese Meldungen konnten von unseren Leitmedien offenbar nicht bestätigt werden oder werden aus anderen Gründen ignoriert. In der Süddeutschen Zeitung bewertet man den Pager-Angriff als Inspiration für Hollywood-Agentenfilme.

Kaum zu ignorieren sind jedoch die weiteren Folgen der Pager-Attacke. Immer wenn Menschen eine neue Methode ausgebrütet haben, andere Menschen massenhaft zu verletzen und zu töten, sind ethische Bedenken über die Gefahren einer schiefen Ebene angebracht. Wohin führen uns diese Neuerungen der Geheimdienste und Militärs?

Bekannt hat sich noch niemand zur Pager-Attacke. Spekuliert wird auf Basis von cui-bono- ("Wem nützt es?")-Argumentationen über eine Drahtzieherrolle der Regierung Netanjahu. Betroffen waren vor allem Hochburgen der israelfeindlichen Hisbollah, Vororte von Beirut und die Bekaa-Ebene des Libanon.

Es könnte der Auftakt zum jetzt angelaufenen Angriff der israelischen Armee auf den Libanon gewesen sein.

Völker- und Menschenrechtsbedenken wurden von Vertretern der UN und der EU geäußert, doch deutsche Leitmedien haben einen deutschen Rechtsprofessor dagegen gestellt, der den Angriff im Sinne der Selbstverteidigung des Staates Israel als legal bewerten würde.

Die Problematik der schiefen Ebene hatte besagter Professor eher nicht bedacht.

Kriegsführung auf schiefer Ebene

Welche taktischen, strategischen oder propagandistischen Motive auch dahinterstecken, der Angriff hat unsere Welt verändert. Hat uns das auf eine schiefe Ebene gebracht? Ist ein symbolischer Damm gebrochen, der uns bislang vor Unheil schützte?

Die Attacke öffnet dabei mindestens zwei Dimensionen: Eine massenhafte Manipulation von am Körper getragenen Kommunikationsgeräten, um den Nutzer zu verletzen, und einen massenhaften Eingriff in Lieferketten, um Konsumgüter zu Waffen gegen die Konsumenten zu machen.

Bei ethischen Kontroversen wird oft vor einem "Dammbruch" gewarnt. Beim Dammbruchargument (engl. slippery-slope argument; "Argument der schiefen Ebene") versucht man, bei einer Neuerung, die scheinbar keine große Änderung ist, auf mögliche drastische Folgen aufmerksam zu machen.

Die Neuerung, die vielleicht noch irgendwie rechtfertigbar erscheint, könnte einen "Damm zum Brechen" bringen. Sie könnte also viele eindeutig nicht mehr rechtfertigbare Schritte nach sich ziehen, welche man nicht mehr kontrollieren kann.

Aus diesem Grund kann man schon den ersten kleinen Schritt nicht tolerieren. Die Pager-Attacke könnte so ein Schritt gewesen sein.

Denkbare drastische Folgen betreffen dabei direkte Reaktionen der betroffenen Kriegsparteien, die bereits blutige Rache geschworen haben, als auch generelle Modi künftiger Kriegsführung. Der Pager-Angriff, der massenhaft zivile Opfer als "Kollateralschäden" in Kauf nahm, wird sich bei einer erwartbaren Drehung der Gewaltspirale zu direkten Angriffen auf zivile Bevölkerungsmassen erweitern lassen.

Dabei ist nicht nur die massenhafte Einbringung von Sprengstoffen in Konsumgüter zu bedenken, sondern – in nur leicht erweiterter Perspektive – von anderen Angriffswaffen. Aus dem ABC-Waffenspektrum sind dabei atomare, biologische und chemische Substanzen zu befürchten, etwa die Klassiker Polonium, Anthrax und Rizin.

In nicht allzu ferner Zukunft kommen vermutlich tödliche Nanoroboter dazu. All diese unangenehmen Dinge könnten künftig großflächig über globale Handelsketten in Konsumgüter aller Art eingebracht werden. Gegenmaßnahmen würden die kriegsbedingt schon galoppierende Inflation weiter anheizen.

Das Handy als Brandbombe

Die zweite Dimension des Pager-Angriffs, die Instrumentalisierung von Kommunikationsgeräten, könnte künftig auf das am weitesten verbreitete Konsumgut dieser Art zielen: auf das Handy.

In rein digitalen Angriffen auf Mobiltelefone ließen sich diese möglicherweise massenhaft gleichzeitig in Brandbomben verwandeln. Im Zuge einer Ausweitung des IoT (Internet of Things) kommen zwar auch andere Geräte ins Visier von Attacken, etwa Autos, Heizungen, Haushaltsgeräte, doch das Handy dürfte Zielobjekt Nummer Eins sein.

Der Hisbollah-Chef hatte seiner Truppe im Vorfeld der fatalen Einführung der Pager-Technologie geraten, ihre Handys nicht zu nutzen, am besten zu vergraben. Vielleicht hatte er echte Informationen, die auf solche Angriffe hindeuten, oder ihm wurden entsprechende falsche Informationen untergeschoben.

Vielleicht wollte er auch nur gegen die anders schwer verhinderbaren Möglichkeiten der Überwachung von Standort, Kommunikation und Räumen in Kamerasicht- und Mikrofonhörweite vorgehen.

Das deutsche Bundesamt für Sicherheit in der Informationsverarbeitung (BSI) könnte nach entsprechender Risikobewertung etwa mit der Empfehlung aufwarten, Handynutzer sollten auf eine plötzliche Erwärmung des Geräts achten.

Da diese der Überlastung mit Durchbrennen des Akkus und möglicher Stichflamme vorausgehen, sei das Handy dann schnellstens wegzuwerfen. Ein Rat, den Technikkritiker ohnehin schon lange geben, allein wegen Sucht-, Manipulations- und Privacy-Gefahren.

Dammbruchargumente bauen im Wesentlichen auf zwei Überzeugungslinien auf: (1.) Auf logischer Linie wird darauf verwiesen, dass sich weitere Schritte logisch aus dem ersten, kleinen Schritt ableiten werden ("Wer A sagt, muss früher oder später auch B sagen"). Ein Beispiel hierfür sind rechtsethische Diskurse, bei denen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ursprünglich angenommene Differenzierungen (...) längerfristig nicht aufrechtzuerhalten sind.

Die Konsequenz ist eine oftmals scheibchenweise Auflösung jener Differenzierung, die ursprünglich als essenziell für den Schutz des "Damms" angesehen wurde, aus Sicht der Kritiker aber bereits den "Dammbruch" im Keim angelegt hat.

(2.) Auf historischer Linie wird darauf verwiesen, dass vergleichbare erste Schritte in der Vergangenheit (aus welchen Gründen auch immer) zu weiteren, ursprünglich unerwünschten Folgeschritten und damit zum Dammbruch geführt haben ("Wie uns die Erfahrung/Geschichte lehrt, wird es dabei nicht bleiben").

Ethix.at

Problem der Dammbruch-Argumentation

Ein Problem der Dammbruch-Argumentation besteht laut ethix freilich darin, dass es meist schwerfällt, die angeführten Folge-Ketten auf ihre Validität hin zu überprüfen. Auch streng-logische Ableitungen sind selten zu erbringen, denn fast immer gehe es nur um bloße Wahrscheinlichkeiten.

Historische Vergleiche zeigten zwar mögliche Szenarien auf, doch eine zwingende Ableitung sei aufgrund viel zu komplexer Kontexte nie eindeutig. Dammbruchargumente entziehen sich also einer rein formalen Beweisführung. Sie sind dennoch notwendig, denn letztlich geht es bei Prognosen stets nur um die Beurteilung von denkbaren Szenarien.

Die künftige Welt ist eine schlechtere geworden

Aus der Pager-Attacke folgende Szenarien deuten darauf hin, dass der internationale Terror zunehmen und die Zivilbevölkerung noch stärker von ihm betroffen sein wird. Der globale Handel und die internationale Arbeitsteilung könnten ebenso leiden wie die Digitalisierung, besonders die Ausweitung des Internets der Dinge.

Die künftige Welt ist eine schlechtere geworden. Außer für Militär und Geheimdienste, denen neue Möglichkeiten offenstehen und die wegen der weiter gewachsenen Angst der Menschen in eine noch rosigere finanzielle Zukunft blicken können.

Gibt es einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Angst vor Angriffen, mehr Geld für Anschaffung und Entwicklung von Angriffswaffen und folglich (beinahe) zwingend mehr Opfer durch die neuen Angriffswaffen, die mehr Angst auslösen?

Vielleicht die generelle Befriedung von Konflikten nur noch durch Verhandlungen, unter Verwerfung allen Strebens nach Siegfrieden und militärischer Durchsetzung von Maximalforderungen?

Möglich wäre dies nur bei einer Begrenzung auch der Kriegspropaganda gegen Konfliktgegner, die Konflikte immer anheizt. Die Beschränkung von Aufrüstung auf wirklich nur für Verteidigungszwecke verwendbare Technologien könnte helfen, ist leider jedoch schwer umsetzbar.