Panzermütter
Der Kinderwagen als Verlängerung des SUVs
In deutschen Städten kann man auf den Straßen und im öffentlichen Nahverkehr den Eindruck gewinnen, dass die Geburtenrate stark gestiegen wäre. Wirft man einen Blick in die Statistiken, zeigt diese jedoch, dass die Geburtenziffer zwischen 2006 und 2016 zwar von 1,33 auf 1,51 Kinder je Frau stieg, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, das die öffentliche Präsenz nahelegt.
Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen Eindruck und Statistik erklären? Eine Möglichkeit ist die höhere Sichtbarkeit von Müttern, die nicht nur ihre Kinder wie Trophäen herumfahren, sondern auch immer riesiger werdende Kinderwagen. Letztere gleichen nicht nur immer mehr Panzern, sondern werden auch zunehmend so eingesetzt - mit einer Weg-da-ich-hab-immer-Vorfahrt-Attitüde, die an die "Panzerkörper" denken lässt, mit denen Klaus Theweleit soldatische Verbrechen zu erklären versuchte, die in der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts in der festen Überzeugung begangen wurden, auf der "richtigen" Seite zu stehen.1
Dass dieser Eindruck auch anderswo entstanden ist, zeigen unter anderen Gesprächsprotokolle aus Anja Maiers Buch "Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter", in dem sich eine Berliner Kaffeehauswirtin wie folgt äußert:
Die kommen hier rein in mein Café, drei Kinderwagen auf dreißig Quadratmeter. Dann is hier dicht. Na, sag ich, einen könnse mit reinnehmen, aber die andern Wagen bitte draußen lassen. Was mir einfällt, macht mich die Olle an, das wäre ja Diskriminierung! Ja, sag ich, wenn Sie hier alle reinrollen, gibt's keinen Platz mehr für andere Gäste. Na hallo, sagt das Rind, das werd ich jetzt überall rumerzählen, dass man hier mit Kindern diskriminiert wird. Ja, sag ich, denn erzählnse dit mal weiter, dann bleiben solche wie Sie endlich weg.
SUVs "wegen der Kinder"
Fahren solche Mütter keine riesigen Kinderwagen, dann sitzen sie häufig in SUVs - Humvee-Militärfahrzeugen nachempfundenen Autos mit erhöhter Sitzposition, Vierradantrieb und Namen wie "Stealth" und "Warrior", die einer Aral-Mobilitätsstudie nach "als eine Art Rüstung" verstanden werden (vgl. SUV-Köpfe in Kampflaune).
Auch wenn es im Zuge der Finanzkrise kurzzeitig so aussah, als sei der SUV-Trend vorbei (vgl. General Motors schließt SUV-Werke in den USA, Kanada und Mexiko), setzte er sich in die 2010er Jahre und bis jetzt fort (vgl. Der Hip Hop der Automobile). Als Grund dafür, warum jemand trotz des enorm hohen Spritverbrauchs einen SUV kauft oder fährt, werden meist "die Kinder" oder "die Familie" angegeben.
Psychischer und sozialer Panzer
Das deutet darauf hin, dass Kinder für manche Eltern eine Art psychischer und sozialer Panzer sind, mit dem sie gegenüber der Außenwelt ein Verhalten rechtfertigen, das sie sonst schwer oder gar nicht rechtfertigen könnten. Diese Selbstgerechtigkeit kann so weit gehen, dass sie sich weit über den Straßenverkehr hinaus auf andere Lebensbereiche ausdehnt:
Ähnlich wie Gediente im wilhelminischen und im post-wilhelminischen Deutschland haben heute viele Mütter anscheinend den Eindruck, dass sie nicht nur gleich, sondern bevorzugt behandelt werden müssen. Ein Eindruck, der durch die Zeitgeistmedien ebenso gefördert und bestärkt wird wie der der Soldaten früher: Als es darum ging, Klagen gegen unangemessenen Kinderlärm zu verbieten, traute sich keine einzige Partei, dagegen zu stimmen (vgl. Parteien wollen "rechtsfreien Raum" schaffen).
Als Prestigeobjekte präsentiert
Diese kulturell geförderte Selbstgerechtigkeit trägt mit dazu bei, dass Kinder immer mehr als Prestigeobjekte präsentiert werden - nicht nur mit riesigen Panzerkinderwagen, sondern auch dadurch, dass viele Mütter unangemessenes (und vor allem lautstarkes) Fehlverhalten im öffentlichen Raum eher zu fördern, als zu sanktionieren scheinen - es erhöht ja die Sichtbarkeit des Prestigeobjekts Kind (vgl. Verwaltungsgericht Berlin stoppt "Krachmacherstraße"). Auch das illustriert ein Auszug aus den Gesprächsprotokollen von Anja Maier sehr anschaulich:
Ein Gast betritt das Café. Die Chefin unterbricht kurz, fragt: Wie immer, Holger? Wie immer. An der Kaffeemaschine stehend, erklärt sie ihm, worüber sie gesprochen hat. Holger erzählt daraufhin, dass er gerade eine neue Wohnung sucht. Er wohnt in einem Hinterhaus, das direkt auf einen Innenhof mit Spielplatz hinausgeht. Ick halte dit Jeschreie nich mehr aus, sagt er, dreißig Jahre bin ick hier, aber jetze is jut - ick zieh nach Charlottenburg. Da isset ruhig. Die Chefin nickt.
Für die Kinder hat so etwas langfristig nicht unbedingt positive Folgen, wie der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt in einem am Wochenende erschienenen (und ausgesprochen lesenswerten) Interview in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) darlegt: Den Snowflake-Studenten fehlt seiner Analyse nach "die Erfahrung, Widrigkeiten einzustecken", weshalb sie nicht damit umgehen können, "wenn jemand etwas sagt, das [ihnen] gegen den Strich geht".
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