Partygate-Report: Kommt Boris Johnson erneut davon?
Manche mögen bewundern, wie der britische Premierminister Krise um Krise übersteht. Die gesellschaftlichen Folgen hingegen sind bitter: Spaltung, Zynismus und Misstrauen
Zu einer der gröberen Unterhaltungsarten bei englischen Landwirtschaftsmessen gehörte es, ein Schweinchen mit Schweinefett einzureiben und dann intoxinierte Jungbauern versuchen zu lassen, das Ferkel zu fangen. Das gelingt meist nicht, weil das Schwein einfach zu schlüpfrig ist. Im übertragenen Sinne ist in England das "greased piglet" ein wenig sympathischer Mensch, der es immer wieder schafft, sich aus unkomfortabler Lage heraus zu winden.
Der britische Premier Boris Johnson trägt den Titel des "gefetteten Ferkels" wohl bald als feste Namensergänzung.
Der lang erwartete Sue Gray-Report wurde am Mittwoch um 10 Uhr zugestellt. Jeder in London, der Stift und Notizblock halten kann, war auf den Beinen, um endlich schwarz auf weiß zu sehen, was ohnehin schon alle wussten: In Downing Street 10 hatte man es während des Corona-Lockdowns ordentlich krachen lassen.
Die Frage war: Wie schwerwiegend würden gewisse vielleicht noch unbekannte Details sein. Welche Schlussfolgerungen würde die Spitzenbeamtin Sue Gray ziehen und vor allem: Gibt es neue Fotos? Schließlich sagt ein Bild mehr als tausend Worte.
Was sagen die Bilder?
Die Frage mit den Fotos kann leicht beantwortet werden. Der Report enthielt keine neuen Bilder. Schon am Vortag hatte ITV News Bilder von Johnson veröffentlicht, auf denen dieser einer feuchtfröhlichen Runde (die auf den Fotos unscharf gemacht wurde) zuprostet. Dies war nicht sein schon bekanntes Geburtstagsfest, für das Johnson bereits von der Polizei ein Bußgeldbescheid erhalten hatte, sondern die Verabschiedung einer Mitarbeiterin, für die der englische Premier nicht bestraft wurde, obwohl der Event der Polizei bekannt war.
Ein genauer Blick auf die Bildserie und deren Verwendung in den englischen Zeitungen macht sogleich die Demarkationslinie deutlich. "Version A" aus dem Anti-Johnson-Lager sieht einen übermäßig gut gelaunten Premier, der, vermutlich selbst angeheitert, seinen Mitarbeitern auf einer Party zuprostet und damit eben jene Regeln bricht, die dem Land während des Lockdowns auferlegt wurden. Das ganze hielt auch noch ausgerechnet Johnsons aus der Staatskasse bezahlter persönlicher Fotograf fest.
In der Ikonografie der Johnson-Gegner werden die inkriminierenden "Prösterchen-Fotos" kombiniert mit Kampagnenbildern der britischen Regierung, die sterbende Covid-Kranke am Beatmungsgerät zeigen, um die verhängten "Stay at home"-Regeln energisch zu illustrieren. Keine Frage, die Bilder scheinen eindeutig zu sein. Während das ganze Land auf jede Art von Zusammentreffen verzichten musste, hieß es in Downing Street: "Hoch die Tassen".
In der "Version B" der Johnson-Loyalisten wird allerdings eine andere, diametrale Eindeutigkeit argumentiert. Zu sehen ist ein um das Land besorgter Premier, der kurz seinen Untergebenen eine Aufwartung macht, um die Moral zu stärken und die erbrachten Leistungen zu würden. Denn Achtung: Der Premierminister steht im Türrahmen!
Wenige Augenblicke später wird Johnson den Raum verlassen haben, im festen Glauben daran, dass die Mitarbeiter sich augenblicklich wieder in ihre Arbeit vertiefen würden. Was später geschah, wusste Johnson nicht und schließlich hat der Amtssitz Downing Street 10 an die hundert Räume. Wie sollte er mitbekommen, was im Zimmer der Presseabteilung geschah?
Viele Johnson wohlgesonnen Zeitungen setzten deshalb auf ihre Frontseiten ein Foto von Johnson, in dem dieser eine Cola-Dose und ein Sandwich in Händen hält. Die halbleeren Wein- und Ginflaschen aus "Version A" sind ebenso nicht zu sehen und deshalb wird die wütende Frage gestellt, wann endlich die leidige Diskussion über das "Nichts und wieder nichts" der Lockdown-Partys enden wird.
Was sagt der Report?
Sue Grays umfangreicher Bericht hat es in sich. Rotweinflecken auf Wänden und dem Kopierpapier, Mitarbeiter, die sich volltrunken übergeben mussten, und eine Prügelei sind nicht unbedingt Vorgänge, die mit einem Amtssitz in Verbindung gebracht werden sollten. Die Liste der Kuriosa ist mittlerweile wirklich lang.
Aufzuführen wäre noch die berüchtigte Karaoke-Maschine, die niemand mehr in Verbindung mit Arbeitsaufgaben zu bringen versucht. Oder die Koffer voller Weinflaschen, die heimlich in den Amtssitz gebracht wurden, die Anweisung, volltrunken das Gebäude nur über den Hinterhof zu verlassen und überhaupt – allein die hohe Anzahl von untersuchten Ereignissen.
Es wird gemunkelt, der Club in Downing Street habe jeden Freitag seine Tore aufgesperrt, die traditionelle "Clubnight" in England somit. Mit liebgewonnenen Traditionen wollte man offenkundig auch im Lockdown nicht brechen.
Allen Kommentatoren ist bewusst, dass die Ermittlungen von Sue Gray ein Bild von Downing Street 10 im Lockdown vermitteln, das keinen Vergleich in der Geschichte des altehrwürdigen, 300 Jahre alten Gebäudes hat. Jeder Premierminister, der solche Vorwürfe innerhalb seiner Amtszeit und somit innerhalb seiner Führungsverantwortung präsentiert bekommen hätte, wäre augenblicklich zurückgetreten.
Und sicherlich auch Boris Johnson. Nicht aufgrund persönlichem Verantwortungsgefühls – das hat Johnson nicht und das weiß auch jeder –, sondern weil ihm die eigne Partei verjagt hätte. Heute allerdings sind viele Abgeordnete und politische Kommentatoren damit beschäftigt, sich das Schweinefett von den Fingern zu reiben. Das gefettete Ferkel ist schon längst entfleucht.
Gelingen konnte dies Boris Johnson, weil eine Absetzung ein Momentum braucht. Dem Premier war es gelungen, die Enthüllungen des Sue-Gray-Reports quälend in die Länge zu ziehen. Monatelang hatte er jede Frage zu den Vorgängen abgewehrt, mit dem Hinweis, erst den fertigen Report abzuwarten. Als dieser nun gestern endlich da war, enthielt er nur Informationen, an die sich die Öffentlichkeit bereits gewöhnt hatte.
Der Bericht hat keine unmittelbaren Folgen
Die anschließende Parlamentsdebatte und die Pressekonferenz verkamen zum bekannten Schauspiel. Von Johnson wurden Entschuldigungen eingefordert, die dieser meinte bereits gegeben zu haben oder nicht geben zu müssen. Dass beispielsweise ausgerechnet am Abend vor der Beisetzung von Prinz Philipp, an der die Queen aufgrund der Covid-Regeln nur allein teilnehmen durfte, die letzten Partygäste erst um 4 Uhr morgen Downing Street verließen, sah Johnson nicht als entschuldigungsbedürftig an.
Zwei Mal wurde Boris Johnson bei seinen Verteidigungsreden eigentümlich still. Erstens weicht er Fragen aus, ob er Sue Gray versucht habe zu beeinflussen, den Report abzumildern oder unter Verschluss zu halten. Hier vermutet Johnson – wohl nicht zu Unrecht – neues Ungemach und den nächsten Angriff seiner Gegner.
Zweitens trafen ihn die Anschuldigungen. Sicherheitsbeamte und Reinigungspersonal seien von Mitarbeitern aus Downing Street verhöhnt worden. Hier habe er persönlich bereits um Verzeihung gebeten und werde die Übeltäter ausfindig machen, um Konsequenzen zu ziehen. Johnsons Upper-Class-Erziehung zeigt sich hier, die mit jahrhundertlanger Übung der Leugnung von Klassengrenzen, sorgsam darauf achtet, niemals schlecht über Dienstpersonal zu reden.
Ansonsten war Johnson schon längst wieder in pompöse Angriffslust verfallen. Sein Gegner im Parlament, der Oppositionsführer Keir Starmer, hatte versucht, die Vorgänge auf eine historische Ebene zu heben und daran erinnert, dass Johnson die moralische Messlatte an einen Premierminister nun so niedrig gehängt habe, dass leicht eine Schlange drüber hinwegkriechen könne.
Johnson hingegen sieht im Oppositionsführer einen gasgefüllten Zeppelin, der an vielen Stellen löchrig würde. Das hohe moralische Ross gezieme dem als legendär regelgetreu agierenden ehemaligen Staatsanwalt Starmer nicht mehr, nachdem dieser wegen ungleich geringerer Covid-Vergehen (eine Imbisslieferung enthielt Bier, das Starmer während einer Sitzung trank) ebenso polizeilichen Untersuchungen ausgesetzt sei.
Boris Johnson kündigte im Parlament an, nicht mehr sonderlich auf seine Wortwahl achten zu wollen und bezeichnete Keir Starmer als "Beer Coma", ein Wortspiel, das an Johnsons Zeit als Kolumnist in der Schmierenpresse erinnert. Der gewünschte Effekt wird allerdings erreicht, die Wasser sind längt getrübt und wer Labour nicht mag, wird trotz der Enthüllungen von Sue Gray schlicht sagen: "alle Politiker sind so".
Weitere Folgen der Affäre
Englische Nahrungsmittelbanken geben längt "Wasserkocher-Rationen" aus, die es Menschen ermöglichen, sich nur mit einem Wasserkocher eine warme Mahlzeit zu bereiten, weil ihnen das Gas längst abgedreht wurde. Manche sind weinend in den Beratungsstellen zusammengebrochen, weil sie erstmals seit Wochen während des kalten Frühjahrs in einem beheizten Zimmer sitzen durften.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es schlecht um das Land steht. Die Befürchtungen sind groß, dass es noch schlimmer werden wird. Niemand glaubt ernsthaft, dass Boris Johnson bereit ist, etwas gegen das Elend zu tun. Die Sozialausgaben wurden im Oktober und März gekürzt. Wie muss der Sue-Gray-Report auf bedürftige Menschen wirken?
Zählen sie wie die Journalisten die Weinflaschen auf dem Kabinettstisch? Kann ihnen verübelt werden, wenn sie einfach "abschalten", jede Hoffnung auf diese Regierung aufgeben und zynisch werden?
Ähnlich wie Donald Trump in den USA unterlässt Johnson keinen Versuch die Fehler, die ihm nachgewiesen werden können, als übliche Fehler des Systems darzustellen. Eine Maßnahme, die wirkt. Zwei Drittel des Landes glauben laut Umfragen, dass Johnson lügt, aber nur wenige erwarten sich Besserung von "Beer" Starmer.
Die Regionalwahlen im Mai gingen für die Torys schlecht aus. Sie verloren hunderte an Sitzen. Viele in der Partei glauben, dass die nächsten Unterhauswahlen mit Johnson an der Spitze nicht gewonnen werden können. Zu viel Porzellan wurde zerschlagen. Derweil warten sie aber noch im Hinterhalt. Denn sie vermuten, dass sie bei einem direkten Angriff Johnson nicht richtig zu fassen bekommen.