Paukenschlag vor UN-Bericht
Syrien nach dem Selbstmord von Innenminister Ghazi Kanaan
Vergangenen Mittwoch meldete die syrische Nachrichtenagentur SANA kommentarlos, dass sich der syrische Innenminister Ghazi Kanaan (63) in seinem Damaszener Büro erschossen habe. Der Umstand, dass die Meldung von SANA verbreitet wurde, beweist, dass dem in Sachen Informationspolitik sonst trägen syrischen Regime diesmal an einer raschen Bekanntgabe gelegen war. Schließlich verbleiben nur wenige Tage bis zur Präsentation des Mehlis-Berichts.
Ghazi Kanaan, seit 2004 Innenminister und von 1982 bis 2002 syrischer "Prokonsul" im Libanon bzw. Chef der dort stationierten syrischen Polizei, galt als einer der Eckpfeiler des alten Assadregimes. Korrupt und in zahllose Verbrechen verwickelt, fiel er 2002 bei Assad-Sohn Bashar in Ungnade. Der Grund: Unklar, wie alles in Syrien. Vermutet wird aber, dass Kanaan nach Bashars Geschmack zu eng mit dem ehemaligen libanesischen Premier Rafik Hariri verbandelt war, der im Februar dieses Jahres einem Attentat zum Opfer fiel. Seither ermittelt der deutsche Staatsanwalt Detlev Mehlis im Auftrag der UN im Mordfall Hariri. Das von Syrien mit wachsender Nervosität erwartete Untersuchungsergebnis präsentiert Mehlis voraussichtlich am 25. Oktober.
Prekäre Zeugenaussage?
Im Hinblick darauf zweifeln viele Syrer Kanaans Selbstmord an, vermuten vielmehr seine Liquidation, weil er der Kommission Informationen über die Drahtzieher von Hariris Ermordung zuspielen wollte. Drahtzieher, die möglicherweise direkt in der syrischen Führungsspitze sitzen. Dass Mehlis-Kreise gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" Anfang Oktober verlauten ließen, der Report werde "nicht zu dem erwarteten politischen Erdbeben führen", die Erwartungen seien gar "absurd hoch", wurde in Damaskus zwar viel zitiert, aber wenig geglaubt. Mehlis, so die Überzeugung, werde kaum all seine Erkenntnisse vorzeitig auf den Tisch legen.
Selbstmord nach Bestechungsskandal?
Doch noch von anderer Seite aus wird das Dreieck Kanaan-Hariri-Mehlis aufgespannt. So strahlte der betont pro-arabische, libanesische Fernsehsender NTV kurz vor Kanaans Selbstmord einen Bericht aus, laut dem Kanaan der Mehlis-Kommission gestanden haben soll, von Hariri im Jahre 2000 zehn Millionen US Dollar einkassiert zu haben. Im Gegenzug habe er ein (Wahl-)Gesetz verabschiedet, das dem seinerzeit noch Syrien freundlichen Hariri den Wahlsieg im Libanon bescherte. Nicht das einzige lukrative Geschäft zwischen den syrischen Offizieren und dem libanesischen Ex-Premier. Warum also – so die Schlussfolgerung des Berichtes – sollte sich Syrien eines Mannes entledigen, von dem es so wunderbar profitierte?
Während der Bericht Syriens Offiziere somit anschwärzt bzw. der (bekannten, aber selten belegten) Bestechlichkeit beschuldigt, wäscht er Syriens Regime rein. Hariri erscheint demnach lebend definitiv nützlicher als tot – und Kanaan kassierte lediglich die Quittung für seine Habgier. So einfach scheint es. Doch: Wer war der Informant für den NTV-Bericht? Wohl kaum die Mehlis-Kommission, die sich Medien – zumal libanesischen – gegenüber ohnehin bedeckt hält. Auch Kanaan scheint auszuscheiden. Immerhin rief er unmittelbar vor seinem Tod den libanesischen Radiosender "Voice of Lebanon" an, um die Motive NTV’s in Frage zu stellen, von dem "Gift" zu sprechen, mit dem der Sender gefüttert worden sei und mit den Worten abzuschließen:
Ich glaube, das ist die letzte Erklärung, die ich abgeben kann.
Das klingt nicht unmittelbar nach einem Mann, der entschlossen ist, sich sogleich eine Kugel in den Kopf zu jagen. "Die Quelle für den Bestechungsbericht sitzt meines Erachtens in der syrischen Führungsetage selbst", erklärt ein syrischer Dissident gegenüber Telepolis. Ähnliches deutet der libanesische Drusenführer Walid Jumbladt an, der etwas nebulös, aber unüberhörbar erklärte, Kanaan sei von "seinem engsten Kreis verraten" worden.
Theorie 3: Ein Putschversuch
Berichte wie die der kuwaitischen Tageszeitung Al-Seyasseh laufen in eine andere Richtung: Kanaans gewaltsamer Tod habe nichts mit dem Hariri-Mehlis-Komplex zu tun, sondern sei das Resultat eines gescheiterten Putschversuchs. Unbestritten ist, dass die Möglichkeit eines Putsches gerade durch einen altgedienten General immer wieder aufscheint. Etwa im Kontext der von der Bush-Administration mal mehr, mal minder klar verfolgten "Constructive Instability" – einer Strategie, die das Regime von innen aushöhlen will und hierfür die Annäherung an Oppositionelle sucht.
Alawitische Altgardisten und baathistische Genaräle, die unter anderem mit dem schmachvollen syrischen Truppenabzug aus dem Libanon und der wachsenden Isolierung des Landes hadern, gehören zu den potentiellen Ansprechpartnern. Auch Nahostexperte Volker Perthes umreißt das Szenario eines Militärputsches in seinem Artikel "Syria: It’s all over, but it could be messy". Am 5. Oktober im International Herald Tribune erschienen, geht die Analyse davon aus, dass die Assad-Ära unwiderruflich vorbei sei. Daran ändern, Perthes zufolge, weder die Ergebnisse der Mehlis-Untersuchung etwas, noch die dem Regime tatsächlich verbleibende Zeit. Ein Militärputsch, ausgeführt durch einen Angehörigen "der höchsten Militärreihen", der "zugleich Mitglied der alawitischen Sekte wäre (zu der Assad gehört)" wäre "kein perfekter Ausweg, aber möglicherweise die annehmbarste Lösung" – sofern der Betreffende anschließend den Weg zu freien Wahlen ebnen würde, so Perthes.
Auffällig an dem Artikel war seine Rezeption: Er verbreitete sich nicht nur lauffeuerartig im sonst so abgeschotteten Syrien, sondern wurde auch von syrischen Dissidenten enthusiastisch beklatscht. Überhaupt gab sich die syrische Opposition in den letzten Wochen betont zuversichtlich – sie sei keineswegs zersplittert, verfüge gar über ein strukturiertes Programm, hieß es übereinstimmend -, was angesichts der seit Monaten wieder brutal durchgreifenden Staatssicherheit zumindest überrascht.
Nutzen und Konsequenzen
Unbestritten aber ist, dass das Regime vorerst von Kanaans "Selbstmord" profitiert. "Zum einen gibt es einen Toten, auf den man alles abschieben kann. Bei Bedarf auch die Federführung im Hariri-Attentat", erklärt der in den USA lehrende Politikprofessor As'ad AbuKhalil in seinem Blog "Angry Arab". Bereits jetzt kursieren Gerüchte über eine ganze Bauernopferliste, welche die herrschenden Vier (Bashar, sein Bruder Maher, sein Schwager Assef Schaukat und Mutter Anissa) abgesprochen haben sollen.
Zum anderen gilt Kanaans Schicksal als Warnung an alle, denen die bedingungslose Loyalität zum Regime abhanden kam. Im selben Atemzug aber hat das Regime verspielt. Denn gleichgültig, ob und wie es sich im Anschluss an die Mehlis-Präsentation und die Folgeschritte der USA, Frankreichs und Saudi-Arabiens aus der Affäre zieht: Es gilt als schuldig am Mord an Rafik Hariri. Auch vor dem syrischen Volk selbst, das bis vor kurzem noch am Nimbus des reformwilligen Präsidenten, den keiner lässt, festhielt. Bashar al-Assad selbst räumte jeden Zweifel aus. In seinem – am Tag vor Kanaans Tod – gegenüber dem Fernsehsender CNN gegebenen Interview bestätigte er: "Ich habe die volle Kontrolle". Offenkundig die Hauptbotschaft des Regimes, kurz vor dem UN-Bericht.