Pax Bushiana
Präsident Bushs Strategie nach dem Vorbild von Truman ist nur der zweitbeste Weg
Wenn die Macht herausgefordert ist, muss sie handeln. Sie handelt immer nach den gleichen Regeln - denen des wahrscheinlichsten Machterhalts. Solange sie das tut, kann man sie normalerweise nicht kritisieren. Die gegenwärtige Situation ist anders aus zwei Gründen. Erstens repräsentiert der Herausforderer die Mehrheit. Zweitens ist das Risiko, die Mehrheit anzugreifen, unkalkulierbar. Nicht nur wird das Überleben eines kleinen Landes bewusst aufs Spiel gesetzt - Israel -, sondern auch das der eigenen Bevölkerung in den mächtigen Minderheitsstaaten. Diese Situation ist präzedenzlos.
Nicht ganz. Präsident Truman stand einmal vor derselben Frage: Wird die Zündung der ersten Atombombe - in Alamogordo in Neu Mexiko, 3 Wochen vor Hiroshima - die gesamte Erdatmosphäre in eine gigantische wasserstoffbombenähnliche Fusionsreaktion einbeziehen? Der befragte Wissenschaftler, der mir einmal vorgestellt wurde, gab Präsident Truman die Antwort: 1 %. Der Präsident informierte seine Wähler nicht über das Risiko, dem er sie aussetzte.
Welchen Rat kann man Präsident Bush geben? Ich meine, er sollte die Wahrheit offen auf den Tisch legen, obwohl die Macht das normalerweise nicht tut. Vielleicht hat er ein größeres Vertrauen in den Himmel als andere und wagt es deshalb, der Bevölkerung zu sagen, welchem Risiko er sie aussetzt? Das Risiko heißt - nach neuester Sprachregelung - "humanitäres Töten": sowohl unter der gegnerischen Bevölkerung, die zu 50 Prozent aus Kindern unter 15 Jahren besteht, als auch unter der eigenen Bevölkerung. Letztere weiß aus der Erfahrung früherer Kriege, dass ihr gewöhnlich nichts passiert. In Deutschland wurde die Frage "Wollt Ihr den totalen Krieg?" einmal öffentlich gestellt und mit "Ja" beantwortet. Präsident Truman bekam sein "Ja" nachträglich durch die öffentliche Nichtdiskussion des Geschehenen. Was gut gegangen ist, wird nicht mehr als Risiko erlebt.
Aber ist es wirklich so riskant im gegenwärtigen Fall, wie Präsident Bush das durch seine eigene Pockenimpfung allen Bürgern signalisiert hat? Er hofft wie Truman, dass die Gefahr nicht so groß ist. Und dass, wenn alles überstanden ist, man sich wieder in einer stabilen Phase der Menschheitsgeschichte befindet - als sein Werk. Das ist eine sehr ehrenwerte Hoffnung.
Die moderne Technik ändert die stabile Entfernungsabhängigkeit von Bedrohungssituationen
Doch was spricht dagegen? Wenn man von der in Kauf genommenen Grausamkeit absieht, spricht die moderne Technik dagegen - zusammen mit der Tierpsychologie. Letztere kennt das Bild von den beiden verschieden stark gefüllten Luftballons, die gemeinsam in eine quaderförmige Kiste gepresst werden. Das Territorium des stärkeren und das des schwächeren Artgenossen (zweier Buntbarsche in einem Aquarium) hat genau dieselbe Struktur, wie Lorenz zeigte: Trotz des Druckunterschieds zwischen den beiden Ballons kommt es in der Kiste - und im Aquarium - zu einem Gleichgewicht. Das liegt im letzteren Fall daran, dass der kleinere Fisch das Zentrum seines Mini-Reviers so heftig verteidigt, dass es dem größeren am äußersten Rand seines eigenen großen Reviers das Risiko nicht wert ist. Dadurch überleben beide trotz des Machtgefälles. So war es auch oft in der Geschichte der Menschheit.
Doch die moderne Technik ändert die stabile Entfernungsabhängigkeit von Bedrohungssituationen. Die Errungenschaften der mikrobiologischen Technik lassen im Verein mit denen der Transporttechnik Entfernungsgradienten unwirksam werden. Hinzu kommt, dass der biologisch Schwächere (die Minderheit) der militärisch Stärkere ist, was das teure klassische Waffenarsenal angeht. Er beansprucht trotzdem weiter die globale wirtschaftliche Vorherrschaft. Der an Kraft kleinere Herausforderer (die Mehrheit) macht ihm das erstmals streitig seit dem 11. September. Der Aufmarsch der Minderheit ist subjektiv reine Verteidigung. Er besitzt den weiteren Vorteil, dass er die Mehrheit zum Stillhalten zwingt, bis der Angriff begonnen hat. Das erzwungene Stillhalten stellt eine sichtbare Schwäche dar, die die revoltierenden Gruppen der Mehrheit das Vertrauen ihrer Geldgeber kosten kann: eine geniale Strategie.
Auch Präsident Truman wagte das Risiko und wurde dafür von der Struktur der Welt belohnt. Ebenso könnte die Zerschlagung der revoltierenden Gruppen der Mehrheit (wenn es sie wirklich gibt) gelingen - auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus. Die Weltordnung wäre wiederhergestellt in einer "Pax Bushiana".
Der schwache Gegner kann das Überleben aller gefährden
Warum rate ich dennoch ab? Dass ich Grausamkeit immer verabscheue, ist nicht mein Argument. Es ist die in der modernen Technik schlummernde Gefahr. Die Geiselnahme Israels und die Geiselnahme der amerikanischen Bevölkerung durch ihren Präsidenten ist nicht zu verantworten. Obwohl eine "pazifizierte Welt" das höchste Ziel jeder rationalen globalen Politik seit Cäsar ist, gilt dies heute nicht mehr.
Die Welt ist zu klein geworden, der "Diffusionsweg" zu kurz. Ein pockenähnliches Virus kann die Zivilisation auslöschen. Der schwache Gegner kann, als die Mehrheit, das Überleben aller gefährden, hat aber trotzdem subjektiv fast nichts zu verlieren.
Diese Art von Logik wurde bisher ein einziges Mal in der Geschichte verstanden - von Frederick de Klerk, als sie ihm von Nelson Mandela vorgestellt wurde. Aus irgendeinem Grund hielt Bin Laden dieselbe Logik Bush bisher nicht vor: Ich vermute, weil er getötet wurde. Oder, weil die Mehrheit sieht, wie er schweigt: Schweigen kann Stärke bedeuten vor denen, die wissen, dass sie nichts zu verlieren haben. Möglicherweise existieren die revolutionären Zellen, die daraus ihre Legitimation schöpfen, auch gar nicht. Doch die, die die Logik von Mandela ("minimale Gewalt") eingesogen haben, wissen, dass sie unbesiegbar sind: Weil sie überall sind, nichts zu verlieren haben und jederzeit ersetzbar sind, solange das Menschenrecht der armen Mehrheit auf Gleichberechtigung unerfüllt ist.
Vielleicht glaubt Präsident Bush nicht, dass er sich in derselben Situation befindet wie Präsident de Klerk - obwohl ich das für unwahrscheinlich halte. Er hat vermutlich ebenso wenig wie ich die Logik der Geschichte von Hegel und Marx gelesen, sieht aber die Logik der Gleichberechtigung mit seinem Herzen ein. Seine Gegner nehmen ihm nicht ab, dass er so fromm wäre wie sie, solange er nicht bestätigt, dass die Rechte, die sie für sich beanspruchen, durch die amerikanische Verfassung allen Menschen gebracht wurden. Man glaubt auf Grund seiner Äußerungen, dass er diese Rechte auf amerikanische Bürger ausreichenden Wohlstands beschränkt wissen will.
Der Geist Jeffersons macht die potenziellen revolutionären Zellen stark. Mandela bekam seine Existenzgarantie für die Mehrheit in Südafrika von de Klerk geschenkt. Es ist bis heute ein steiniger Weg, aber es ist ein Weg. Ich fordere fast ebenso lang (seit 1994) Lampsacus ein, die Heimatstadt aller Menschen auf dem Internet, als Existenzgarantie für die Mehrheit der Menschen auf dem Planeten (Die Evolution des Wissens). Zuletzt habe ich Präsident Saddam Hussein gebeten, es einzurichten; er schweigt. Vielleicht ist die Heimatstadt den revolutionär gesinnten Vertretern der Mehrheit nicht durchsichtig genug als leicht einzurichtende Existenzgarantie. Die reiche Minderheit weiß, Lampsacus wird der größte Arbeitgeber und das größte Geschäft der Geschichte. Doch keine Regierung und kein Bill Gates wagt es.
Römer haben bislang immer gleich reagiert
Vielleicht wird Präsident Bush es einführen, sobald die nächste ruhige Phase der Weltgeschichte erreicht ist, die er durch sein eigenes Sich-nicht-imponieren-Lassen einzuläuten versucht. Ich würde ihm Glück dazu wünschen. Nur: Wie bringen wir die Menschen in den armen Ballungszentren der Welt dazu, dass auch sie glauben können, dass an sie und vor allem ihre Kinder gedacht wird? Werden sie nicht lieber die Rechte der Mehrheit einfordern, sofort?
Das Überleben Israels und das Überleben der reichen Länder steht auf dem Spiel, wenn Präsident Bush das Risiko von Alamogordo erneut eingeht. Es ist wieder wohlkalkuliert. Wir kennen die Zahl. 1 %, dass Rom und nicht nur Rom untergeht. Römer haben bisher immer gleich reagiert (mit Ausnahme des Rätsels de Klerk).
Lieber Herr Präsident Bush: Bitte, glauben Sie einem einfachen Chaosforscher, dass das Risiko zu groß ist. Ich erzähle Ihnen dann gerne zur Belohnung, warum auch der "Big Bang", jener andere, heute von allen für unverzichtbar angesehene große Knall in der Vergangenheit des Kosmos, sich als unnötig erweist, wenn man der Logik des Chaos folgt. Letztere Logik war in der Antike immer mit der des Himmels (des Geistes) verknüpft.
Für Jonas, meinen verstorbenen kleinen Sohn.