Peinlich, Alter!
Mediziner wollen Altern als Krankheit klassifizieren und behandeln. Philosophen haben ein Déjà-vu
Fürwahr, der Mensch ist eine Fehlkonstruktion! Evolutionsbiologen spotten über den "unintelligent designer", den dusseligen Schöpfer, der uns nach hinten guckende Photorezeptoren ins Auge gepflanzt, das Gen zur Vitamin C-Synthese beschädigt und den überflüssigen, aber entzündungsanfälligen Blinddarm dringelassen hat. Und ständig geht der Mensch kaputt - gesund ist er ja eigentlich nur, wenn er nicht genügend untersucht wird. Der Verschleiß häuft sich, und das Alter ist ein einziges Ärgernis. Zumindest diesem Konstruktionsfehler wollen 25 internationale Forscher jetzt den Kampf ansagen. Im renommierten amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichten sie vor einem Jahr im November einen Aufruf: Altern soll als Krankheit in die diagnostischen Manuale aufgenommen werden! Nur so könnten Behandlungen entwickelt und klinische Studien durchgeführt werden.
Der Vorstoß provozierte eine Erwiderung. Aber wer gehofft hatte, jemand würde sich gegen den Wahnsinn verwehren, einen unvermeidlichen natürlichen Vorgang als Krankheit zu klassifizieren, hatte eine Enttäuschung zu verarbeiten: Anfang Mai diesen Jahres bemängelte ein Herr Zhavoronkov vor allem, dass Seneszenz schwer abzugrenzen sei, weil das Altern, manchen Studien zufolge, bereits in der Gebärmutter beginne. Ansonsten hatte er schon vor fünf Jahren vorgeschlagen, Alter als Krankheit zu klassifizieren, und ärgerte sich, dass es nun für die neueste Auflage der International Classification of Diseases (ICD) zu spät sei.
Derweil wird natürlich schon eifrig daran geforscht, das Altern aufzuhalten oder, wenn möglich, sogar umzukehren. Die üblichen Verdächtigen sind dazu hilfreich wie immer: gesunde Ernährung, körperliche Betätigung, Omega-3, viel Schlaf, Sex. Wem das alles oder einiges davon aber keinen Spaß macht, der braucht Disziplin, wenn er ein dergestalt spaßarmes Leben ausdehnen möchte. Daher ist es für Manche eine gute Nachricht, dass Wissenschaftler mittlerweile medizinische Interventionen gefunden haben, die ganz anstrengungslos dasselbe erreichen.
Im Herbst letzten Jahres wurde gezeigt, dass ein Cocktail aus Wachstumsfaktoren innerhalb eines Jahres die neun Probanden um zweieinhalb Jahre jünger machte. Und gerade fanden israelische Wissenschaftler, dass eine hyperbare Sauerstofftherapie die Alterung effizienter umkehrt als jede andere Maßnahme. Bei der hyperbaren Sauerstofftherapie atmen die Patienten reinen Sauerstoff unter stark erhöhtem Umgebungsdruck, so dass sich mehr Sauerstoff im Blut löst. In der Studie verlängerten sich die Telomere von Blutzellen, also die sich altersabhängig verkürzenden Endkappen der Chromosomen, um durchschnittlich 20%, und der Anteil seneszenter Immunzellen im Blut verringerte sich in ähnlichem Maße.
Ein Tipp: Man kann Ähnliches durch Flaschentauchen erreichen. Mäuseaugen schließlich kann man neuerdings mit viral vermittelter DNA-Reprogrammierung verjüngen. Der Kampf gegen das Altern ist längst in vollem Gange.
Die Scham vor der eigenen Schöpfung
Durch all das bestätigt gefühlt, wenngleich als Kassandra, hätte sich der Philosoph Günther Anders, welcher der lästigen Krankheit "Alter" schon vor fast drei Jahrzehnten erlegen ist. Bereits in der Nachkriegszeit wunderte er sich über die seltsame Beziehung, die der Mensch zu seinen Geschöpfen, den Maschinen, pflegt, und prägte den Begriff von der "prometheischen Scham". Der Wortwechsel in der "Science" führt einmal neu vor Augen, wie lohnend es ist, Anders wieder und immer wieder zu lesen. "Die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution" (so der Untertitel seines Hauptwerks "Die Antiquiertheit des Menschen") hat niemand so gut wie er verstanden.
Was ist "prometheische Scham"? Es ist die Scham des Schöpfers vor seinen eigenen Geschöpfen. Die industrielle Fertigung erlaubt es uns, Produkte zu erzeugen, die uns in jeder Hinsicht überlegen sind: Unsere Maschinen sind viel stärker, schneller, präziser, zuverlässiger, als ein Mensch es je sein könnte; sie sind auch unermüdlich - mit der Folge, dass menschliche Arbeiter sich daran anzupassen und in Schichten zu arbeiten haben. Unsere Produkte sind überdies beliebig oft replizierbar und dadurch de facto unsterblich: Die einzelne Leuchtstofflampe mag kaputtgehen, aber dann wird sie umgehend durch eine völlig identische ersetzt. Der Taschencomputer ist zu jedem Zeitpunkt das aktuelle Modell; welches individuelle Gerät (sofern diese Wortzusammenstellung überhaupt einen Sinn ergibt) die erwarteten Funktionen liefert, ist irrelevant. Daher leben wir laut Anders in der platonischen Welt der Ideen, denn während das Einzelding kaputtgehen kann, ist sein Produktmuster ewig.
Der Mensch - nicht. Er ist schwach, fehleranfällig, ermüdbar, und wenn er kaputt ist, gibt es keinen Ersatz. Darauf könnte er stolz sein; stattdessen schämt er sich. Er sieht er sich umzingelt von Kreationen, die ihm in jeder Hinsicht überlegen sind, und möchte so sein wie sie.
Diese Diagnose öffnet einen neuen, verstehenden Blick auf zahlreiche Phänomene der Gegenwart: den Jugendwahn etwa, oder die moderne Medizin mit ihrer Neigung, den Menschen als zu reparierende Maschine zu sehen, nötigenfalls durch Austausch von Ersatzteilen (Organe - vom Geben und Nehmen). Auch das, was Günther Anders schon in den 50er Jahren (!) als "Ikonomanie" beobachtete, gehört dazu: das Bedürfnis der meisten Menschen, ständig und überall Fotos von sich zu machen. Wir replizieren uns selbst, so gut wir können.
So ist es dahin gekommen, dass, wie Anders es im Vorwort zum zweiten Band seiner "Antiquiertheit" schrieb, "wir nicht mehr sagen dürfen, in unserer geschichtlichen Situation gebe es u. a. auch Technik, vielmehr sagen müssen: in dem 'Technik' genannten Weltzustand spiele sich nun die Geschichte ab, bzw. die Technik ist nun zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir nur noch 'mitgeschichtlich' sind". Insbesondere gilt das seit der Erfindung der Atombombe, deren Erstverwendung vor 75 Jahren wir im Sommer gedacht haben. Auch ihre "Idee", ihre Blaupause, wird nie wieder verschwinden, und somit besteht die atomare Bedrohung so lange, bis sie erfüllt wird. Wir leben im "apokalyptischen Zeitalter".
Und das "prometheische Gefälle" ist schuld daran, dass wir dieser Bedrohung gegenüber blind sind. Die Überlegenheit unserer Erzeugnisse hat dafür gesorgt, dass wir heute viel mehr bewirken als uns vorstellen können: Die atomare Vernichtung, aber auch die Klimakatastrophe sind zu groß für unsere Wahrnehmung. Wir können sie bewirken, aber nicht sie uns vorstellen. Und schon gar nicht angemessen fühlen. "Ermorden können wir Tausende; uns vorstellen vielleicht zehn Tote; beweinen oder bereuen aber höchstens einen." Wir bleiben zu klein gegenüber unseren eigenen Möglichkeiten. "Der Mensch ist zugleich größer und kleiner als er selbst."
Lieber einzig als ewig
Soweit in einem Schnelldurchlauf die Analyse von Anders. Die Bemühungen, das Altern als reparierbare Verschleißerscheinung zu klassifizieren und zu bekämpfen, illustrieren, dass diese Analyse nicht nur nicht veraltet ist, sondern seit über sechs Jahrzehnten laufend aktueller wird. Traditionell versteht man unter einer Krankheit eine Abweichung vom Normalzustand: Der natürliche Lebenslauf eines jeden Organismus‘, der mit der Zeugung beginnt und in Alter und Tod endet, gilt führenden Altersforschern demnach nicht mehr als "normal". Die Referenz, dieser unklar definierte Zustand von "Gesundheit", ist für sie vielmehr der leistungsfähige Mensch in seiner Blüte. Jede Abweichung davon ist "krank" und muss behandelt werden.
Selbstverständlich ist es schön, gesund zu sein. Im technischen Zeitalter ist jedoch aus dem Vergnügen ein Imperativ geworden: "Bleiben Sie gesund!" Nur der Gesunde vermag wenigstens ansatzweise mit seinen Maschinen mitzuhalten, sie zumindest angemessen zu bedienen. (Auch den Hinweis auf die verräterische Doppelbedeutung dieses Verbs verdanke ich Anders.)
Dass Altern und Tod nicht nur normal und gesund, sondern sogar ein Segen sein können, scheint immer schwerer begreiflich. Zugegeben, leicht war es nie. Schon in den Psalmen wird Gott um Aufklärung gebeten, warum das Leben kein unendlicher Parcours-Lauf kann: "Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat." In der Bitte aber steckte zugleich die Auflösung: Es muss ein Ende haben, damit es ein Ziel hat. Nur unsere Endlichkeit zwingt uns zu Entscheidungen, und damit zur eigenverantwortlichen Gestaltung unseres Lebens. Dass wir uns entscheiden müssen, was wir mit unserer knappen Lebenszeit anfangen, gibt ihr allein Sinn. Ähnlich, wie in einem unendlichen Universum alles Mögliche wirklich wird, wäre in einem unendlichen Leben jede Entscheidung vorübergehend, und mithin bedeutungslos.
Darum schrieb ich oben: Wir könnten auch stolz auf unsere Fehlerhaftigkeit sein. Wie Henning Beck in seinem letzten Buch schreibt, erlaubt erst sie uns unsere spezifisch menschlichen Fähigkeiten: unsere Ablenkbarkeit die Kreativität, unsere Vergesslichkeit die Konzentration auf Wesentliches. Und der Vergänglichkeit verdanken wir unsere Individualität. Dass kein Mensch im Falle seines Ausfalls durch einen anderen zu ersetzen ist, macht ihn einzigartig (und umgekehrt). Dass den Menschen keine Ewigkeit zur Verfügung steht, um alle Erfahrungen zu machen und alle Fähigkeiten zu erwerben, das macht sie verschieden. Unsere Endlichkeit macht uns einzig.
Kaum zufällig gehörte Günther Anders auch zu den Wenigen, die schon früh das Gerede vom Individualismus in der westlichen Gesellschaft als verkaufsfördernde Täuschung erkannte und den tatsächlichen Konformismus des industrialisierten Menschen untersuchte. Die Einzigartigkeit jedes Menschen wird abgeschliffen, wenn er Konsument medialer und materieller Massenwaren zu sein hat, wenn er damit zum Produkt seiner Produkte wird.
Indem er sich völlig einfügt in eine Maschinenwelt, verliert der Mensch seine Individualität und damit seine Menschlichkeit. Wie in "Matrix" ist seine Eigenheit dann nur noch eingebildet. Wir müssen dagegen den Stolz auf unsere nur scheinbaren Fehler setzen. Wenn wir unsere Menschlichkeit bewahren wollen, müssen wir aufhören, uns vor unseren Maschinen zu schämen.